Tore Kvæven: Eisiges LandEr ist fünfzehn Jahre alt, es ist seine erste Walrossjagd. Sein Antlitz ist makellos und glatt… Als ob das Land, das ihn nährt, noch keinen Schaden an ihm angerichtet hätte. Als ob es damit noch warten wollte. Ein junger Jäger aus einem Bergdorf der Westsiedlung. Hin und wieder wirft er einen Blick über die Schulter, aber das Walross ist noch nicht zu sehen.

Knapp 400 Jahre lang waren die Küstenstreifen im Süden und Westen Grönlands von Wikingern besiedelt. Möglich wurde das unter anderem, weil dort zu der Zeit ein milderes Klima herrschte als heute. Ein paar hundert Familien bauten Häuser, hielten Pferde, Hunde, Kühe und Schafe. Jagten Walrosse, Robben, Rentiere und Moschusochsen. Waren gespalten in Odin-Gläubige und Christen, und kämpften, vielleicht mangels fremder Gegnern, ab und zu gegen sich selbst.

Tore Kvævens Roman beginnt im Jahre 1293. Er erzählt die Geschichte des jungen Arnar Vihljamsson. Der versucht trotz der strengen Ordnung, der Hierarchien und der alten Gesetze der Kolonie – in der unter anderem Landrechte, Jagdrechte und Fischereirechte geregelt sind – die Ideen seines Lebens um- und durchzusetzen. Dafür legt er sich mit den regionalen Häuptlingen und den rauen Sitten an. Das erzeugt viel Spannung, und man ist neugierig, ob er seine gesteckten Ziele erreichen wird, einen eigenen Hof zum Beispiel. Und natürlich, ob er die Frau, in die er sich schon als Teenie verliebt hat, entgegen aller Wahrscheinlichkeit bekommen wird.

Drei Winter waren seit der Walrossjagd in Botnsvik vergangen. Sowohl für die Odinshöfe als auch für die Fjordhöfe waren es harte Winter gewesen. Schnee und Frost waren schon früh im Herbst gekommen, und im Frühjahr hatte es lange gedauert, bis die Weiden grün geworden waren und die Tiere hatten herausgelassen werden können. Auf mehreren Höfen waren Tiere gestorben, als das Winterfutter ausgegangen war.

Arnars am weitesten gestecktes Ziel ist ein Fahrt nach Vinland, dem schon früh entdeckten Nordamerika. Dazu braucht er natürlich ein großes seetüchtiges Boot oder Schiff. Aber es gibt nur noch morsche und lecke alte Kähne. Denn eines der großen Probleme ist: Auf Grönland wachsen keine Bäume. Die letzte Lieferung des begehrten Rohstoffs kam aus Norwegen und liegt bereits ein paar Jahre zurück. Lediglich das durch Meeresströmungen angeschwemmte Holz ist verfügbar. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs der Schwierigkeiten bei der Umsetzung seiner Pläne. Denn als sich herausstellt, dass seine Angebetete dem riesenhaften, bärenstarken Sohn eines Stammesführers versprochen ist, werden seine Nöte immer größer und brutaler. Für seinen Lebensplan kämpft Arnar, blutig, verbissen und mit viel Glück. Aber eben auch Pech.

Tore Kvæven hat einen spannenden Roman über die Facette einer Epoche geschrieben, über die man im Allgemeinen, wenn die Wikingerzeit nicht Passion ist, wenig weiß. Hin und wieder schreibt er aus Sicht von Tieren. Da gibt es den Moschusochsen oder den alten Wal, der wegen eines ungestümen Jägers den Inuit entkommt, was eine fatale Folge für eine der Nordmann-Familien nach sich zieht. Da gibt es den fast verhungerten Eisbär, der auf einem Eisberg Richtung Atlantik treibt. Oder den dreihundert Jahre alten Grönlandhai. Und oft wirkt sich das Schicksal dieser Tiere direkt auf die Menschen aus. Das ist toll gemacht und gibt dem Roman kurz einen anderen Drall, um sich dann wieder Arnars Geschichte zu widmen.

Allerdings habe ich die Stimmung des Buches als eher düster wahrgenommen. Was vielleicht daran lag, dass ich es im Winter gelesen habe. Aber die Lebensumstände der Kolonisten waren alles andere als einfach. Es gab kein Getreide, also auch kein Brot und kein Bier. Das musste importiert werden. Aber, wie schon erwähnt, gab es keinen Schiffsverkehr mit dem Kontinent mehr, ergo auch keinen Nachschub. Die Siedlungen waren dem Untergang geweiht. Etwa hundert Jahre später waren die Wikinger dort verschwunden.

Der Roman »Eisiges Land« ist toll geschrieben und von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann vorzüglich aus dem Norwegischen übersetzt. Nicht umsonst hat das Buch dort alle renommierten Literaturpreise abgesahnt. Ein erfrischender historischer Roman, der aus dem momentanen Einheitsbrei des Genres wohltuend heraussticht.

Tore Kvæven: Eisiges Land | Deutsch von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann
Piper 2023 | 544 Seiten | Jetzt bestellen