Für sein vorletztes Buch vor seinem Tod, der vor ziemlich exakt zehn Jahren eintrat, ging der britische Autor Tom Sharpe mit seinem eigenen Baukastensystem, nach dem er üblicherweise seine schwarzhumorigen gesellschaftskritischen Romane verfasste, reichlich schludrig um. Man erkennt die Mechanismen wieder, nur ordnet er sie viel zu willkürlich an, um daraus eine überzeugende Geschichte erwachsen zu lassen. »Lauter Irre« aus dem Jahr 2009 wirkt lustlos, mechanisch, wie unter Zwang verfasst, und es fällt sogar schwer, überhaupt eine nacherzählbare Handlung zu extrahieren. Irgendwann geht es um eine Frau, die auf dem Stammsitz ihrer matriarchalisch ausgerichteten, selbstredend degenerierten Familie mit ihrem entführten nichtsnutzigen Neffen eine neue Genration an Stammesmüttern zeugen will. Und dann ist das Buch auch schon vorbei.
Wie ein Tom-Sharpe-Roman funktioniert: Ein Mensch weicht in 1) a) Wort, b) Tat von 2) a) seinen gewohnten, b) den gesellschaftlich anerkannten königlich-britischen Pfaden ab, indem er 3) a) etwas äußert, b) etwas vollführt, das 4) a) Angehörige, b) Kollegen, c) Polizisten, d) andere fehldeuten, weil es 5) a) doppeldeutig formuliert, b) verdächtig ausgeführt, c) nicht vollständig durchdacht ist. Dieser betroffene Mensch unter 1) muss nun auf kompromittierende Umstände reagieren, die er 6) a) aus Dummheit, b) aus Faulheit, c) aus Eigennutz, d) versehentlich auslöste, und sowohl er als auch sein Umfeld unter 3) reagieren darauf aufgrund weiterer Positionen 4) wegen 6) abermals mit 1) und 5), und so schraubt sich die Katastrophenspirale herrlich konstruiert in den Abgrund. Das Ganze präsentiert Sharpe in einer wohlformulierten Sprache, die einen großen Teil des Lesevergnügens ausmacht.
Mit diesem Vorgehen nimmt sich Sharpe gern gesellschaftlich anerkannte Posten oder hochrangige Personen vor, die er mit größtmöglicher Schadenfreude an ihrer eigenen Gier zugrunde gehen lässt, und da sich solche Leute zumeist in einer Art systemischem Haifischbecken bewegen, gehört der Beifang seinerseits zur mit Vorliebe filetierten Beute. Mit seinem Debüt »Tohuwabohu« (Riotous Assembly) nahm er 1971 Apartheid und Kolonialgebaren in Südafrika aufs Korn, fortgesetzt zwei Jahre später mit »Mohrenwäsche« (Indecent Exposure). Im Jahr darauf nahm er sich mit »Schwanenschmaus in Porterhouse« (Porterhouse Blue) den Universitätsbetrieb in Cambridge vor, in »Klex in der Landschaft« (Blott On The Landscape) die politischen Verstrickungen um den geplanten Bau eines Motorways durch das Gebiet eines Adligen.
Mit dem Roman danach gelang Sharpe 1976 der internationale Durchbruch, wie man so sagt: »Puppenmord« (Wilt), der Auftakt der fünfteiligen Reihe um den Berufsschullehrer Henry Wilt, die Sharpe mit »Henry haut ab« (The Wilt Inheritance) als seinem letzten Roman 2010 abschloss. Seine Rezeptur verfeinerte Sharpe von »Puppenmord« aus in diversen Geschichten, bis er in den Neunzigern begann, etwas zu freihändig seine Gewürzmischung ins Gebräu zu rühren. Zudem fühlte er sich offenbar dazu gezwungen, sich in den Absurditäten steigern zu müssen, und übertrieb es auf eine teilweise abstoßende, also weit über ein leicht überdrehtes Maß an Satire hinaus abscheuliche Weise. Irgendwas mit Sexualität und Perversion geht da ja immer, und man fragte sich alsbald, ob es wirklich die Gesellschaft war, deren Prüderie Sharpe herausarbeitete, oder ob er nicht vielmehr seine eigene Fassungslosigkeit über das, was Menschen in der Moderne so praktizieren, entlarvte.
So spielt Sexualität natürlich auch in »Lauter Irre« eine Rolle, unerfüllte vorrangig, die sich in zwei Fällen wie aus dem Hut gezaubert doch noch erfüllt, obwohl es dafür keinen erkennbaren Anlass gibt, außer dem, dass Sharpe mit dem Buch irgendwann selbst fertig war und es zum Abschluss bringen wollte. Er beginnt es nun damit, die Historie des Familienclans der Gropes – daher der Originaltitel – ab den Wikingern nachzuerzählen, bis weit über eine reine Intro-Funktion hinaus. Er bringt einen unüberblickbaren Reigen an Personen auf, die mit der eigentlichen Handlung indes nichts mehr zu tun haben. Zur Verdeutlichung der spärlichen Motive, die die späteren Hauptfiguren haben, hätte ein kurzer Anriss ausgereicht; zudem nimmt dieses Intro beinahe die Hälfte dieses ohnehin nicht sonderlich seitenstarken Buches ein. Besonders viel Humor steckt in der Darstellung des Frauenclans leider ebenfalls nicht.
Irgendwann vergisst man die Zusammenhänge, weil sie keinerlei Bedeutung zu haben scheinen, und findet sich dann doch in einer Geschichte wieder, von der man sich fragt, wer die Leute überhaupt sind, die darin vorkommen. Man verdrängt diesen Gedanken, folgt den Geschehnissen, die grob nach dem oben genannten Regularium abfolgen, und trifft kurz vor Schluss dann doch noch einmal auf dem Grope-Anwesen ein. Was jetzt die katastrophalen Umstände auslöst, hat man wieder vergessen: Irgendein Bankangestellter verzweifelt an seinem Sohn, der ihm so ähnlich zu werden droht, dass er ihn umbringen will, was die Gattin verhindert, indem sie den geliebten Sprössling zu ihrem Bruder entsendet, einem zwielichtigen Autohändler, den die Polizei schon lange im Auge hat, der den Bengel zur Begrüßung fürstlich abfüllt und sich selbst ins Koma säuft, was seine Gattin wiederum dazu veranlasst, mit dem benebelten Neffen im Schlepptau das Weite zu suchen – und ihr Glück eben in Grope Hall. Der erste Mann flüchtet heimlich aus dem Land und findet seine sexuelle Erfüllung in Barcelona. Und der entführte Neffe seine auf Grope Hall, das er erpresserisch zu übernehmen gedenkt, jedoch nicht damit rechnet, dass er damit offene Scheunentore einrennt. Buch vorbei.
So richtig Lust auf diese Geschichte scheint Sharpe selbst nicht gehabt zu haben, dabei ist die Liste der vielversprechenden Ansätze gar nicht so gering. Der entflohene Horace etwa begibt sich auf Europaodyssee, um seine Spuren zu verwischen, und seine Erlebnisse wären eigentlich eine eigene Geschichte wert. Natürlich ist er zu ungebildet, um vernünftig zu planen, fällt aber instinktiv Entscheidungen, die gut für ihn sind; eine warmherzige Ausnahme mithin im Sharpe-Universum, das ansonsten für Instinkthandlungen nur Katastrophen bereithält. Der ganze Rest ist viel zu bemüht, um mitzureißen, und viel zu willkürlich, um humorvoll zu sein. Schade, denn es ist eigentlich eine Stärke Sharpes, die im ersten Moment überzeugenden Pläne seiner Figuren in etwas münden zu lassen, das sie nicht vorhersahen, das jedoch ebenfalls überzeugend in den Abwägungen fehlte und alle Pläne torpediert. Ähnlich ergeht es auch den Figuren in Elmore Leonards Romanen, die indes US-amerikanische Hardboiled-Themen abgrasen. Sharpes Humor ist hier nun bedauerlicherweise nicht mehr tiefschwarz, sondern blassgrau.
Tom Sharpe: Lauter Irre | Deutsch von Marie-Luise Bezzenberger
Goldmann 2010 | 224 Seiten | Jetzt bestellen