Es gab nur ein Gesprächsthema: die Anweisungen der außerirdischen Invasionsmacht. Sie hatten die Kontrolle über alle Fernseher, Radios und Handys übernommen und sendeten in einer Endlosschleife immer wieder dieselbe Nachricht: Die Menschheit hatte dreißig Tage Zeit, sich auf den Kontinent Antartika zu begeben. Was mit denjenigen passieren würde, die es nicht rechtzeitig schafften, blieb unklar. Es wurden keine Drohungen ausgesprochen und keine Konsequenzen genannt.
Die amerikanische Medizinstudentin Liza befindet sich mit ihrer Familie in Lissabon, der letzten Station einer zweiwöchigen Europareise. Gelangweilt von der touristischen Druckbetankung lernt sie den gutaussehenden Fischer Atto kennen. Gemeinsam erleben sie die Ankunft von Außerirdischen. Eine Invasion, die weltweit stattfindet. Die Aliens geben der Menschheit dreißig Tage Zeit, um sich in die Antarktis zu retten, danach werden alle Menschen im Rest der Welt vernichtet.
Der Roman beginnt mit drei kurzen Episoden: Vor zweitausend Jahren entdeckt ein polynesischer Fischer ein ihm unbekanntes Land. Ende des 19. Jahrhunderts wird ein Robbenjäger dazu gedrängt, die Antarktis zu erforschen, um seine gesellschaftliche Stellung zu heben. Fünfzehn Jahre vor der eigentlichen Handlung verliert auf einer Arktis-Forschungsstation ein Astronom die Nerven. Drei Ereignisse, deren Bedeutung für den Leser noch nicht zu erkennen sind. Ich mag solche verheißungsvollen Einstiege.
Das Buch ist ein Pageturner im wahrsten Wortsinn, weil man einfach erfahren muss, wie es weitergeht und was hinter den Ereignissen am Anfang steckt. Die Handlung ist sprunghaft und fertigt Storyentwicklungen in wenigen Sätzen ab, was aber sehr reizvoll ist. Schnell wird klar, dass es sich um einen großangelegten Handlungsbogen handelt, der sich nicht zu lange mit einem einzelnen Punkt beschäftigen kann. Figuren treten ebenso schnell ab, wie sie zuvor erschienen sind und man sollte sich nicht zu sehr an sie gewöhnen, denn die Fluktuation ist enorm.
Die Kälte und ihre Bewältigung gehört zu den großen Themen des Romans (neben Kleinigkeiten wie Alieninvasion und Aufbau einer neuen Zivilisation). Nach einem Zeitsprung von zwanzig Jahren gibt es eine Technologie, um Neugeborene gentechnologisch für die Antarktis zu verbessern. Einfach so, ohne technische Erklärungen, auf anderthalb Seiten. (Im Vergleich dazu wird dem eher banalen Kennenlernen von Liza und Atto fast ein ganzes Kapitel gewidmet.) Überhaupt bekommt der Leser Entwicklungen in einem Tempo und mit einer Dreistigkeit vorgesetzt, dass es eine wahre Freude ist. Muss man mögen, ich tue es. Andere Autoren hätten allein aus dem ersten Viertel des Buches eine Trilogie gemacht.
Es gibt Action in diesem Roman, aber sie steht nicht im Vordergrund. Fans von Roland-Emmerich-Filmen werden schon im ersten Viertel großzügig bedient, Fans der X-Men im letzten. Aber es sind die vielfältigen Themen und Ideen sowie das atemberaubende Tempo, die »Kälte« so reizvoll machen. Smith packt wirklich eine Menge hinein, ohne dass der Roman überladen wirkt, eben weil diese Informationsflut hier Methode hat.
Von Tom Rob Smiths Bestseller »Kind 44« kenne ich nur die Verfilmung, die beiden Fortsetzungen habe ich nicht gelesen und den folgenden Roman »Ohne jeden Zweifel« fand ich richtig schlecht. Nicht die besten Voraussetzungen, um sich mit seinem neuen Roman zu beschäftigen, aber der Klappentext klang vielversprechend und ich bin immer neugierig, wenn ein Autor mal eben komplett das Genre wechselt. In diesem Fall wurde meine Neugier reichlich belohnt.
»Kälte« ist ein rasanter Ideenroman, der nie langweilt und das Leserinteresse bis zum Ende aufrechterhält. Ein spannendes und originelles Abenteuer.
Tom Rob Smith: Kälte | Deutsch von Michael Pfingstl
Heyne 2023 | 464 Seiten | Jetzt bestellen