Terry Pratchett & Stephen Baxter: Die lange ErdeQuantentheorie trifft Abenteuerroman: Hier ist alles drin, was das Herz begehrt, Wildwest-Siedlertrecks, Zukunftstechnologie, »Lange Erde« genannte Parallelwelten, Meta- und Quantenphysik, Politwissenschaft und Soziologie, Fantasy, Polizeiaction, Steampunk und, glücklicherweise nur angedeutet, eine Art Romanze. Die Autoren Terry Pratchett und Stephen Baxter haben gottlob das Händchen dafür, alles auf eine Weise süffig zu verquicken, dass die Mischung weitgehend aufgeht und man sich in diese fast 500 Seiten förmlich hineingezogen fühlt. Man merkt, dass hinter der Grundidee, man könne in Parallelerden wechseln, jede Menge Brainstorming steckt: Das Feld ist überzeugend umfassend bestellt.

Für den Einstieg in diese Geschichte muss man den Willen haben, mit nicht gegebenen Informationen zurechtzukommen, denn Pratchett und Baxter reißen Episoden an, ohne sie zu erklären, und da hilft das Vertrauen in die Autoren, dass sie die Erklärungen nachreichen. Und man braucht natürlich ein gutes Gedächtnis oder die Lust am Zurückblättern. Man weiß zu Beginn nicht, welche der Figuren man länger und intensiver verfolgt, ob es Schütze Percy ist, der aus dem Kriegsgetümmel in Frankreich verschwindet und vermeintlich unter Russen in einer friedvollen Umgebung weiterlebt, oder der Twen Joshua Valienté, der zwischen den Welten geboren wird, oder Lobsang, ein allmächtiger virtueller Tibeter, oder die Pioniersiedlerin und Bloggerin Helen Green, oder die Polizistin Monica Jansson, oder Willis Linsay, der den Prototypen für einen Weltenwechselapparat ins Internet stellte und das ganze Abenteuer damit erst lostrat.

Sie alle finden zwar wieder den Weg in die Handlung, aber bestimmend sind tatsächlich Lobsang, Joshua und Sally, Tochter von Willis. Nachdem Willis die Bauanleitung für einen Apparat veröffentlichte, mit dem man auf parallele Erden wechseln kann, die sich willkürlich bezeichnet jeweils nach »Ost« und »West« (und nicht etwa in unendliche Richtungen) von der »Datum« genannten Ur-Erde ausbreiten, ist es das Forschungsziel von Lobsang und Joshua, denen sich im Verlauf alsbald Sally anschließt, herauszufinden, wie weit sich die Welten erstrecken oder ob sie gar ringförmig ineinander übergehen. Der »Wechseln« genannte Übergang in eine Parallelwelt verursacht bei den Reisenden Übelkeit, was die Ausbreitung der Menschheit erschwert, sie aber nicht verhindert: Bis über die hunderttausend Erden hinaus siedeln sich Menschen an, um dem gesellschaftlichen Druck der Datum-Erde zu entkommen, um unendliche Rohstoffe ausbeuten zu können, um vor dem Gesetz zu fliehen oder schlichtweg, um allein zu sein.

Und dann gibt es Menschen, die das Wechseln von Natur aus beherrschen, teilweise kontrolliert, andere unwissentlich. Zu den kontrollierten Wechslern gehören Sally und Joshua, und Lobsang ist ohnehin ein Exot: Als das auf diverse Server hochgeladene Bewusstsein eines jungen Tibeters ist er allwissend und beinahe allmächtig, und das befähigt ihn dazu, eine Art Hochtechnologie-Zeppelin mit den zwei Reisenden an Bord in Windeseile durch die Welten wechseln zu lassen, auf der Suche nach dem vermuteten Ende der Parallelwelten. Dabei entdecken die Gefährten natürlich allerlei fantasievolles Getüm und Ungetüm, geraten in bedrohliche Situationen und stoßen auf Humanoide, die ebenfalls das natürliche Wechseln beherrschen und Lobsangs Theorie zufolge die Auslöser für historische Mythen von Trollen und Elfen darstellen.

Nicht jeder Mensch indes ist in der Lage zu wechseln, darin sind Dramen aller Art angelegt, bis hin zu Verschwörungstheorien, religiösen Eiferern und Terroristen auf der Datum-Erde. Überhaupt scheint es, als hätten Pratchett und Baxter – auch dank der Teilnehmer eines Workshops, wie sie verraten – in dem Roman so ziemlich alles Denkbare abgedeckt, was sich aus der Idee von Parallelwelten ergeben könnte, Aus- und Einbrüche, Wurmlöcher, evolutionäre Abwegigkeiten (die sich indes auf Strecke etwas abnutzen, wenngleich den Autoren immer wieder unerwartete Varianten einfallen), politische und wirtschaftliche Katastrophen, multinationale Konsortien, neue Gesellschaftsformen, alternative Evolutionen, beschwerliche Reisen, steampunkartige Neusiedlungen, da Eisen nicht mitwechseln kann, sogar die Wahrscheinlichkeit zu einem derart starken Meteoriteneinschlag, dass wahlweise der Mond oder gar die ganze Erde zerstört sind. Jeder episodische Seitenstrang hat eine Relevanz für mindestens das Verständnis der Geschichte, wenn nicht sogar direkt für deren Entwicklung; Pratchetts Anteil scheint da das Erzählen zu sein, während auf Baxters Konto vermutlich die höchst anschaulich und verständlich, weil stark vereinfacht eingefügten wissenschaftlichen Erklärungen gehen. Es ist ein immenses Vermögen der Autoren, diesen Mix so hinzubekommen, dass er den Lesefluss nicht nur nicht unterbricht, sondern sogar befeuert, und zu keinem Zeitpunkt den Glauben an die wahrhaftige Möglichkeit der Geschehnisse untergräbt.

Weniger gelungen indes sind die Dialoge und die persönlichen Beweggründe der Hauptfiguren, und noch weniger sind es die zwischenmenschlichen Abgründe und Brücken zwischen Sally und Joshua. Was die Autoren den Protagonisten als Tiefe oder großes Geheimnis andichten, erscheint häufig banal; ein Fehlen dieser Anteile hätte dem Roman oftmals keinen Schaden zugefügt. Eine Romanze zwischen den beiden Jugendlichen ist allerhöchstens angedeutet, und angesichts der unzureichenden persönlichen Dialoge ist das auch gut so. Solcherlei Emotionalitäten spielten in Pratchetts »Scheibenwelt«-Romanen eher untergeordnete Rollen, hier erkennt man, warum das so ist; gleichzeitig beweist er sich als ernsthafter Autor, der seinen Humor kanalisiert und handlungsförderlich zu verwenden weiß. »Bäume hatten noch nie versucht, ihn umzubringen«, stellt Schütze Percy etwa eingangs fest; das ist klassische Prattchett-Lakonie, zweckdienlich eingesetzt. Einige logische Stolperfallen muss man ebenfalls erdulden, etwa, dass es möglich ist, Menschen, die nicht wechseln können, an die Hand zu nehmen, dass Familie Green dies jedoch bei ihrem Sohn unterlässt; oder dass von alle 50 Jahre sich abspaltenden Erden die Rede ist, es in den Nachbarwelten aber dennoch keine entsprechenden Zivilisationen gibt.

Die ganze Geschichte erinnert etwas an »Das Licht ferner Tage« (Orig. »The Light Of Other Days«), das »2001«-Autor Arthur C. Clarke bereits im Jahr 2000 schrieb – ebenfalls mit Stephen Baxter. Darin ermöglichen Wissenschaftler eine gezielte Nutzung von Wurmlöchern, was die Gesellschaft verändert, da etwa Intimsphäre nicht mehr existiert (das nahm die heutige Selbstdarstellung der Nutzer im Social Media vorweg). Zuletzt ist es Ziel der Forscher, mit Hilfe dieser Technik bis an die Ursprünge der Erde zu gucken und zu beobachten, was davor war.

Das Buch schließt mit einer Pointe, die ein offenes Ende darstellt; für »Die lange Erde« lassen sich Pratchett und Baxter zwar weitgehend ebenfalls auf eine Art offenes Ende ein, erfinden aber eine die Akzeptanz herausfordernde Erklärung für diverse, die Handlung bestimmende Elemente, etwa die Massenflucht der Trolle. Immerhin ist diese Erklärung bereits auf den ersten Seiten angedeutet, also offenbar kein Schuss aus Verlegenheit, aber dennoch nicht umfassend zufriedenstellend, wie die meisten Erklärungen metaphysischer Phänomene in Romanen.

Aber das sind Details. Man empfindet sich lesenderweise ebenfalls wie ein Pionier, wie ein Abenteurer, der sich auf den Weg in unendliche Weiten und Möglichkeiten macht, und freut sich über die umfassenden Ideen der Autoren. Trotz der Dicke von annährend 500 Seiten ist man letztlich angesichts des Einfallsreichtums gar enttäuscht, das Buch aus der Hand legen zu müssen. Wie gut, dass das Duo diesem Buch noch drei weitere (sowie ein viertes ohne den verstorbenen Pratchett) folgen ließ!

Terry Pratchett & Stephen Baxter: Die lange Erde | Deutsch von Gerald Jung
Goldmann 2014 | 480 Seiten | Jetzt bestellen