Tanja Dückers: HimmelskörperIch bin so weit fortgegangen von zu Hause, und Renate lebt nicht mehr. Und trotzdem: An all das, was passiert ist, denke ich täglich – eine Endlosschleife in meinem Kopf. Alles, was ich male, steht unter diesem Bann oder Fluch.

Dückers Roman »Himmelskörper« begleitet die Ich-Erzählerin Freia bei der Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte und beinhaltet so das Schicksal dreier Generationen. Freias Großeltern, Jo(hanna) und Mäxchen, erlebten den Zweiten Weltkrieg als Erwachsene mit, doch es ist ihre Tochter Renate, Freias Mutter, die am gravierendsten unter den Folgen leidet. Renates ganzes Leben bleibt von dem einschneidenden Erlebnis geprägt, dass ihre Familie im Gegensatz zu vielen anderen am Kriegsende das Glück hatte, mit einem Flüchtlingsschiff aus Westpreußen fliehen zu können. Renate selbst ist zu diesem Zeitpunkt zwar erst vier Jahre alt, und doch ist sie es, die das Überleben ihrer Familie sichert, durch eine scheinbar harmlose Tat, deren volle Bedeutung und Tragweite ihr erst viel später bewusst wird.

Auf den ersten Blick wirkt Freia wie eine typische Vertreterin jener Generation, die gegen das Schweigen ankämpft, gegen das Leugnen und Verdrängen der Eltern und Großeltern im Hinblick auf alles, was mit dem Dritten Reich zusammenhängt, und doch vollzieht sich Freias Vergangenheitsforschung anfangs eher zufällig und nebenbei. Ihr geht es nicht darum, unangenehme Tatsachen ans Licht zu ziehen, sondern mehr darum, als werdende Mutter ihre Familie und vor allem ihren Platz in ihr zu verstehen. Erst allmählich rückt das tragische Schicksal Renates zunehmend in den Mittelpunkt, die Freia trotz aller Vergangenheitsforschung fast übersieht und so verpasst, ihr zu helfen.

Man kann als Leser sehr lange darüber nachdenken, ob es sich bei »Himmelskörper« in erster Linie um einen Roman über die Aufarbeitung der deutschen Geschichte handelt, oder ob, aus Freias Perspektive betrachtet, diese eine fast stellvertretende Rolle für jede andere Schicksalsverwicklung einnimmt, die eine Durchschnittsfamilie befallen kann. Schließlich ist da auch noch Wieland, Freias große Liebe, ihr enges Verhältnis zu ihrem Zwillingsbruder und die Komplikationen, die sich aus dieser Dreiecksbeziehung ergeben, die Reibungen in der Ehe ihrer Eltern, Älterwerden, Krankheit und Demenz der Großeltern – alles Probleme, die nicht notwendigerweise, sondern nur am Rande mit der nationalen Geschichte zusammenhängen. Es ist gerade die gelungene Verstrickung der beiden Themenbereiche, die den Roman so interessant macht.

Freia geht es nicht darum, ihre Großeltern oder Eltern zu be- oder entschuldigen oder Erklärungen für den Nationalsozialismus zu finden. Ihr vordergründiges Anliegen ist schlicht, weiterleben zu können, sich von der Übermacht der Vergangenheit zu befreien, damit sie die Gegenwart nicht zudeckt und erstickt.

Freias Bemühungen kommen in ihrer Rebellion gegen den Trieb ihrer Mutter und Großmutter zum Ausdruck, alles Erdenkliche in Speichern und Kellern aufzuheben, zu sammeln und nichts wegzuschmeißen, nicht einmal die dritten Zähne der toten Jo. Diese Sammelwut erklärt sich einerseits aus der Sparsamkeitsgewohnheit der notleidenden Kriegs- und Nachkriegsgeneration, trägt aber auch den ambivalenten Zug, die Vergangenheit in Kisten zu verpacken und sie somit gleichzeitig wegsperren und aufbewahren zu wollen. Freia und Paul finden schließlich in der Kunst, dem Malen und Schreiben, das wirksamste Mittel, um der Vergangenheit auf konstruktive Weise Herr zu werden.

Tanja Dückers: Himmelskörper | Deutsch
Aufbau 2003 | 318 Seiten | Jetzt bestellen