Warum ich das erzähle? Weil wir Reinheit vielleicht bewundern oder das jedenfalls behaupten, in Wirklichkeit aber sehen wollen, wie sie kompromittiert wird, wie Ideale zerstört, beschmutzt und in den Dreck gezogen werden, in dem wir selbst tagein, tagaus leben.
Dem neuen Roman von T.C. Boyle liegt eine wahre Geschichte zu Grunde. Es geht um das Projekt Biosphäre 2, ein 1991 von Milliardär Edward Bass in Arizona errichteter Gebäudekomplex, in welchem die Erde im Kleinen nachgebaut wurde: mit Savanne, Ozean, tropischem Regenwald, Mangrovensumpf und Wüste sowie inklusive sorgsam ausgewählter Fauna.
Ziel dieses Langzeitprojekts: Die Erschaffung eines autarken, in sich geschlossenen Ökosystems. Es soll wichtige Erkenntnisse liefern, unter anderem für die Besiedlung von Mond und Mars in ferner Zukunft. Erforscht werden soll auf diese Weise nicht nur, ob es grundsätzlich möglich ist, ein solches Okösystem zu schaffen und dauerhaft aufrecht zu erhalten, sondern auch, ob darin eine kleine Gruppe von Menschen – abgeschnitten von der Außenwelt – über einen Zeitraum von zwei Jahren überleben kann.
In seinem Roman hat T.C. Boyle dieses achtköpfige Team fiktional neu zusammengestellt. Vier Männer und vier Frauen. Auf über 600 Seiten breitet er ihr aufsehenerregendes Abenteuer, das Experiment Ecosphere 2, aus. Er erzählt ihre Geschichte aus drei sich ständig abwechselnden Perspektiven. Da ist zum einen Kommunikationsoffizier Ramsay Roothoorp, zum anderen die Biologin Dawn Chapman, die vornehmlich für die Nutztiere in Ecosphere 2 zuständig ist. Ihre vermeintlich beste Freundin und Kollegin Linda Ryu hat den Sprung ins Team der Terranauten nicht geschafft. Boyle hat sie dennoch geschickt als dritte erzählende Person hinzugefügt, um für sich und den Leser den Blick von Außen nicht zu verlieren und der ganzen Geschichte mehr Dynamik zu verleihen. Was auch gelingt.
Das Thema scheint wie gemalt für T.C. Boyle. Schließlich geht es um etwas, das ihn in seinen Romanen und vor allem auch Kurzgeschichten seit jeher beschäftigt: um den Eingriff des Menschen in die Natur, um seinen Versuch, die Natur zu gestalten und zu beherrschen und um das unvermeidliche Scheitern an dieser Aufgabe.
Umso überraschender, dass Boyle die hochinteressanten ökologischen Aspekte, die mit dem Projekt in Arizona verbunden sind, in seinem Buch lediglich als Kulisse nutzt. Kernthema sind sie jedenfalls nicht. Wer den Roman aus naturwissenschaftlichem Interesse oder als Science-Fiction-Fan zur Hand nimmt, könnte enttäuscht werden. Denn Boyle konzentriert sich in seiner Erzählung auf das Zwischenmenschliche, auf unsere Triebhaftigkeit und ihre Folgen (zugegeben, auch das immer schon ein wichtiges Thema für Boyle). Der Sex kommt den Terranauten schon in die Quere, bevor sie sich in das gigantische Terrarium einschließen lassen, zu einem Zeitpunkt also, zu dem man als Leser von den Protagonisten noch eine uneingeschränkte Begeisterung für die Mission erwartet.
Auch die Psychologie fernab des menschlichen Sexualtriebs scheint aus meiner Sicht etwas zu kurz geraten. Sie ist aber vorhanden in kleinen Randgeschichten, als bespielsweise zum Weihnachtsfest eines der Schweine geschlachtet werden soll, zu dem Nutztierplegerin Dawn Chapman eine besondere Beziehung aufgebaut hatte – als Haustier-Ersatz.
Ob T.C. Boyle durch diese Gewichtung einiges von seinem spannenden Sujet verschenkt hat, darüber lässt sich streiten. Die ersten Rezensionen deuten an, dass es unterschiedliche Meinungen dazu gibt. Fraglich allerdings, ob es das unterhaltsame Buch geworden wäre, das es zweifellos ist, wenn Boyle die wissenschaftlichen Aspekte mehr in den Vordergrund gestellt hätte. Großartig erzählt und intelligent strukturiert ist sein neuer Roman auf jeden Fall und damit Pflichtlektüre für seine hierzulande nicht gerade kleine Fangemeinde.
T.C. Boyle: Die Terranauten | Deutsch von Dirk van Gunsteren
Hanser 2017 | 608 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen