Vor zwei Monaten hatte Manny noch vierundvierzig Leute beschäftigt, zwanzig davon Vollzeit. Wenn er heute Abend die Tür abschließt, werden bis auf fünf alle ihren Job verloren haben, und einer von diesen fünfen – ungerechterweise, denn er war ihr Vorgesetzter – wird er selbst sein. Am Montag werden die Verbliebenen im Olive Garden in Bristol anfangen, eine zusätzliche Viertelstunde Fahrzeit, aber besser als das, was Jacquie und die Übrigen erwartet. In den letzten Wochen hat er an den Empfehlungsschreiben gesessen und versucht, sich etwas Nettes einfallen zu lassen – in manchen Fällen nicht schwer, in anderen fast unmöglich.
Vier Tage vor Weihnachten öffnet Manny DeLeon zum letzten Mal vor der endgültigen Schließung die Filiale der Red-Lobster-Restaurantkette. Die melancholische Eröffnungsszene, in der er alle Maschinen und Geräte überprüft, immer im Bewusstsein, dieses Ritual zum letzten Mal durchzuführen, gibt die Grundstimmung des Buches vor.
Manny ist ein guter Filialleiter, er liebt seine Arbeit und befolgt die Anweisungen der Zentrale. Die meisten Mitarbeiter sind an diesem Tag nicht mehr zur Arbeit erschienen und von denen, die gekommen sind, werden noch einige vor Ablauf ihrer Schicht verschwinden. Manny tut alles, um einen geregelten Ablauf zu sichern, so als handele es sich um einen ganz gewöhnlichen Tag.
Vor dem Lokal herrscht ein Schneesturm, dem sich ohnehin niemand freiwillig aussetzen würde, und so sind die letzten Gäste eine Busladung chinesischer Touristen, die sich beim Muschelessen in einem anderen Restaurant den Magen verdorben haben und nur die Toilette benutzen möchten. Trotzdem wird der Abend nicht langweilig. Alte Feindschaften, interne Streitereien und Eifersüchteleien, kleine Racheakte, Liebeskummer und ein Stromausfall halten die Besetzung des Red Lobster auf Trab, ebenso wie diebische Großmütter, zänkische Mütter mit ihren verzogenen Kindern, unzuverlässige Schneeräumdienste, Trinkgeldknauserer und Gutscheinfuchser. Manny bekommt alles unter die Nase gerieben und jahrelang gehütete Dinge werden gesagt. Er begegnet allem gleichmäßig freundlich und stoisch. Doch in dieser Nacht wird er auch ein ums andere Mal über seinen Schatten springen.
Während Manny die Pappe über das Loch in der Windschutzscheibe des Supra klebt, wird ihm klar, dass keiner auf das Lobster aufpasst, und einen Augenblick gerät er in Panik und stellt sich vor, wie ein Dieb in die Kasse greift oder, was wahrscheinlicher ist, ein älteres Paar am Empfangspult wartet. Aber als er sieht, wie alle mit anpacken, denkt er, dass es schon in Ordnung ist. Dass sie alle zusammen hier sind, ist wichtiger.
In den letzten Minuten vor Geschäftsschluss warten sie gemeinsam vor dem Fernseher auf die Ziehung der Lottozahlen, immerhin geht es um einen Jackpot von 325 Millionen Dollar. Die Gelegenheit für einen billigen Knalleffekt bleibt vom Autor glücklicherweise ungenutzt. Es braucht keine Naturkatastrophe oder einen Lottogewinn, um die Dramatik in dieser Nacht deutlich zu machen.
Als Film wäre »Letzte Nacht« einer jener bittersüßen Kleinstadtfilme, die mitten ins Herz treffen. Für die Verfilmung wünsche ich mir dann folgendes Ende: Die Kamera fährt sachte von den erleuchteten Fenstern rückwärts in die Dunkelheit, während die orchestrale Musik langsam verklingt und vom Einsatz eines Dylan-Songs abgelöst wird. Abspann.
Stewart O’Nan: Letzte Nacht | Deutsch von Thomas Gunkel
Marebuchverlag 2007 | 160 Seiten | Jetzt bestellen
Macht so neugierig wie das Cover, dass auch in unsere Sammlung gehört, wie ich finde.
Hi!
Ein interessanter „Geheimtipp“. Von diesem Autor habe ich bislang noch nie etwas gehört. Ich werde mir das Buch einfach mal zulegen und dann meine Meinung dazu posten … wenn’s recht ist natürlich nur. 😉
Hallo Gery, vielen Dank für das Feedback. Auf Deine Meinung sind wir gespannt.