Stephen King und Bev Vincent (Hrsg.): Flug und AngstIn solchen Momenten hat man keinerlei Kontrolle. Man kann nichts Konstruktives tun, außer zum wiederholten Mal den Sicherheitsgurt zu überprüfen, während in der Bordküche die Teller und Flaschen klappern, die Türen von Gepäckfächern aufspringen, Babys heulen, das Deo aufgibt und aus den Lautsprechern über einem die Stimme einer Flugbegleiterin ertönt: »Der Kapitän bittet Sie, sitzen zu bleiben.« Während die überfüllte Röhre schaukelt, schwankt, rattert und ächzt, hat man Zeit, über die Zerbrechlichkeit des eigenen Körpers nachzudenken und über jene eine unwiderlegbare Tatsache: Man wird mit Sicherheit runterkommen.

Anthologien sind immer Geschmackssache und selten gefallen einem Leser alle Geschichten darin, was weniger mit der Qualität als mit persönlichen Vorlieben zu tun hat. Bei einem Herausgeber wie Stephen King könnte man annehmen, dass es sich in erster Linie um Gruselgeschichten handelt, es gibt in dieser Anthologie aber auch Erzählungen aus den Bereichen Krimi, Science-Fiction und Fantasy, sowie mehrere, die sich keinem Genre zuordnen lassen. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie von Flugzeugen handeln und spannend sind.

Die Liste der Autoren ist vielversprechend, denn es befinden sich viele Hochkaräter darunter. Leider muss man im Quellenverzeichnis feststellen, dass es sich häufig um Wiederveröffentlichungen handelt. In einigen Fällen verständlich, da die Autoren längst tot sind, in anderen enttäuschend, wenn man Fan der Autoren ist und die alten Geschichten schon kennt. Wie zum Beispiel »Albtraum auf 20.000 Fuß« von Richard Matheson, in der ein Passagier während des Fluges eine Gestalt auf der Tragfläche entdeckt. Die Geschichte ist ein Klassiker und wurde bereits mehrfach verfilmt. Aktuell für eine Neuauflage der Serie »Twilight Zone«. Stephen King und sein Sohn Joe Hill zumindest haben jeweils einen Originalbeitrag beigesteuert und einige andere Beiträge erscheinen zum ersten Mal auf Deutsch.

Nach einem launigen Vorwort von Stephen King, kommt die erste Geschichte kaum vom Boden hoch. Beitrag zwei stammt von Holmes-Erfinder Arthur Conan Doyle und wurde im Jahr 1913 verfasst. Was sie in diesem Zusammenhang schon aus historischen Gründen interessant macht. Das gilt für mehrere der älteren Geschichten. Aus heutiger Sicht erscheint es mindestens verwunderlich, dass man früher im Flugzeug noch rauchen durfte und sich in jeder Lehne ein Aschenbecher befand. Wirklich unglaublich dagegen ist, dass man sogar Pistolen mit an Bord bringen durfte, weil es niemand kontrollierte. Weitere historische Geschichten spielen im Alten China und im Zweiten Weltkrieg. Das Thema Flugzeug wird also in dieser Anthologie sehr breit gefächert behandelt.

Ich möchte die Geschichten hervorheben, die mir besonders gefallen haben (obwohl sich keine völlig misslungene darunter befindet): Die Klassiker von Richard Matheson, John Varley und Dan Simmons lohnen auf jeden Fall, wenn man sie nicht bereits schon kennt. Von Peter Tremayne kommt die Geschichte über einen Mord in der verschlossenen Bordtoilette eines Flugzeuges. Eine solide Kriminalgeschichte, angenehm und unterhaltsam. Stephen Kings Geschichte besitzt eine nette Idee, gehört aber eher in sein persönliches Mittelfeld.

Tom Bissel werde ich mir merken, weil mir sein Stil gefallen hat. Die Flugreise spielt in seiner Geschichte allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Der letzte Beitrag der Anthologie stammt von James Dickey (Autor von »Beim Sterben ist jeder der Erste«) und ist ein langes Gedicht. Ein sehr gutes Beispiel dafür, wie unterschiedlich die Geschmäcker sein können. Das Highlight von »Flug und Angst« ist für mich allerdings »Freigabe erteilt« von Joe Hill, für dessen Betrag allein sich die Anschaffung des Buches lohnt. Tolle Charaktere in einem atemberaubenden Szenario. Einfach meisterlich.

Stephen King und Bev Vincent (Hrsg.): Flug und Angst
Deutsch von Bernhard Kleinschmidt, Gisbert Haefs, Julian Haefs, Friedrich Mader, Sven-Eric Wehmeyer, Kristof Kurz, Marcel Häußler, Jürgen Bürger, Gunnar Kwisinski, Violeta Topalova, Kathrin Bielfeldt, Alfred Scholz und Friedrich Sommersberg
Heyne 2019 | 448 Seiten | Jetzt bestellen