Stephen King, Owen King: Sleeping BeautiesDie Welt wird mit einer nie dagewesenen Zerreißprobe konfrontiert. Überall auf der Welt wachen Frauen aus ihrem Schlaf nicht mehr auf, stattdessen sind sie eingesponnen von einem dichten, mysteriösen, spinnwebartigen Gewebe. Wer versucht, diesen Kokon zu entfernen, bereut dies bitterlich, denn sobald die Hülle mutwillig beschädigt wird, erwacht die jeweilige Person und mutiert zu einer reißenden Bestie. Es gibt keinerlei Erklärung für dieses Phänomen, die Zivilisation steht vor einem Rätsel und die Männerwelt sieht sich auf einen Schlag einem Dasein ohne weibliche Wesen gegenüber, denn die Seuche – oder was auch immer diesen Zustand hervorruft – macht auch vor Kindern nicht halt.

Der Fokus des Buches liegt auf dem unscheinbaren Kaff Dooling, einem verschlafenen Nest in den Appalachen, dessen herausragendes Merkmal sein Frauengefängnis ist, was auch schon einiges über Dooling aussagt. Hier arbeitet Dr. Clinton Norcross als Gefängnispsychiater. Seine eigene Praxis hat er seinerzeit aufgegeben, noch ehe sie so richtig zum Fliegen kam; stattdessen wählte er den scheinbar sichereren Weg einer staatlichen Anstellung in der Frauenhaftanstalt von Dooling, ohne sich zunächst bewusst zu werden, dass es die Geister seiner Vergangenheit sind, welche sein Handeln bestimmen.

Seine Frau Lila hat den Posten der Polizeichefin inne, eine Tatsache, die dem einen oder anderen Möchtegernmacho ein Dorn im Auge ist, denn was hat schließlich eine Frau in dieser Männerdomäne verloren? Es kriselt in dieser Ehe, die Gründe reichen bis in die Jetztzeit hinein und der schwelende Konflikt zwischen Clinton und Lila ist eines der zentralen Themen des Buches, der im weiteren Verlauf auch die Handlungen der Personen beeinflussen wird.

Inmitten des sich schnell ausbreitenden Chaos richtet sich der Fokus auf Eva – »Evie« – Black, eine Fremde, die offenbar als einzige gegen die Seuche immun ist. Wie kann das sein? Ist sie die Urheberin – so verrückt das auch klingen mag – oder weiß sie mehr darüber als die Einwohner von Dooling? Hat sie gar die Fähigkeit, diesen Irrsinn zu beenden und wenn ja, um welchen Preis?

Ihr werden übernatürliche Fähigkeiten nachgesagt und so wird sie zunächst ins Frauengefängnis verfrachtet, um sie dort unter Kontrolle zu halten und sie wie ein Käfer zu analysieren. Und tatsächlich hat Evie etwas mit dieser Sache zu tun, aber sie stellt Forderungen. Sie schließt einen Pakt mit Clinton, doch der Preis, den er zahlen muss, ist hoch. Er soll sie vor dem Mob beschützen, der sich außerhalb des Gefängnisses formiert. Seine Widersacher fahren schweres Geschütz auf, und unter Führung des psychopathischen Tierüberwachungsbeamten Frank Geary macht sich die schießwütige Männerwelt auf zur finalen Schlacht. Ein Massaker ist zu befürchten …

Überall schwelen Konflikte, im Kleinen wie im Großen, und die Zerreißprobe, mit der die Welt sich auseinandersetzen muss, wird in kumulierter Form auf Dooling projiziert. Das macht »Sleeping Beauties« zu einem Verwandten von »Die Arena«. Der Vergleich drängt sich schon auf, wenn man sich nur das üppige Personenregister anschaut, welches dem Buch vorangestellt ist. Selbstredend wird die initiale Zahl der Mitwirkenden rasch auf eine überschaubare Menge dezimiert, so wie wir es häufig von Stephen King gewohnt sind. Und auch wenn Dooling sich nicht unter einer Kuppel befindet, so sind es doch die Befindlichkeiten und stereotypen Verhaltensmuster, aus denen die Protagonisten nicht in der Lage sind auszubrechen.

Als Stephen King vor vielen Jahren mit dem befreundeten Autor Peter Straub den »Talisman« schrieb, machten sich die beiden einen Spaß daraus, jeweils den Schreibstil des Gegenübers zu imitieren, damit der Leser kräftig rätseln konnte, wer denn nun was geschrieben hatte. Ob er dieses Spiel dieses Mal mit seinem Sohn wiederholt hat, weiß ich nicht. Mir sind auch keine Unterschiede hinsichtlich des Schreibstils aufgefallen, und ganz ehrlich – wen kümmert es? Viel wichtiger ist, dass das Buch zumindest bis zum letzten Drittel ordentlich Fahrt aufnimmt und Spaß macht. Gegen Ende krankt es leider am sattsam bekannten Morbus King – man hätte auch diesen Roman um Einiges kürzen können, aber sei’s drum – »Sleeping Beauties« ist ein gutes Buch aus dem Hause King.

Stephen King, Owen King: Sleeping Beauties | Deutsch von Bernhard Kleinschmidt
Heyne 2019| 960 Seiten | Jetzt bestellen