Stephen King: HollyAm Morgen macht er ein paar einfache Übungen, und am Abend geht er laufen, wobei er es nicht übertreibt, sondern seine vierzig Jahre alte Lunge durchlüftet und seinem vierzig Jahre alten Herzen die Chance gibt zu zeigen, was es draufhat (Ruhepuls: 63). Wenn Jorge fünfzig wird, will er wie vierzig aussehen und sich auch so fühlen, aber das Schicksal ist ein Schelm. Jorge Castro wird nicht einmal seinen einundvierzigsten Geburtstag erleben.

Privatermittlerin Holly Gibney betreibt die Detektei »Finders Keepers« und wird von Penny Dahl beauftragt, deren Tochter Bonnie zu finden, die auf dem Nachhauseweg verschwunden ist. Gefunden wurden nur ihr Mountainbike und eine Art Abschiedsbrief. Gerade hat Holly ihre Mutter durch das Virus verloren und ist entsprechend niedergeschlagen. Umso verbissener stürzt sie sich auf diesen Fall. Bald stellt sie fest, dass Bonnie nicht die einzige vermisste Person ist. Im Abstand von Jahren sind mehrere Menschen spurlos verschwunden. Ist Holly einem Serienmörder auf die Spur gekommen?

Wer hinter dem Verschwinden der vermissten Person steckt, wird sehr früh enthüllt, und das ist eine der Stärken des Buches, denn es handelt sich um äußerst interessante Bösewichte. Hier beweist King wieder einmal sein große Stärke, scheinbar normale Menschen als das pure Böse zu zeigen. Keine Monster oder übersinnlichen Wesen, sondern die ganz normalen Spinner von nebenan.

Es gibt dieses Mal keinerlei phantastische Elemente und man könnte den Roman komplett dem Krimi-Genre zuordnen. Aber in weiten Teilen ist es auch ein Gesellschaftsroman. Nicht nur wegen der Bezüge zu Corona, sondern auch durch die Thematisierung von Alltagsrassismus und Polizeigewalt in den Staaten oder dem literarischen Aufstieg von Hollys Freunden Barbara und Jerome, der Universitätsleben und die Kulturszene mit einbezieht. Manches Mal geht das etwas auf Kosten der Spannung, aber King schafft es wie immer sehr gekonnt, alles miteinander zu verknüpfen.

Der Roman spielt in der Corona-Zeit, weshalb Masken und Impfungen oft zur Sprache kommen. Das ist einigen Lesern übel aufgestoßen. (Man braucht dazu nur die Ein-Stern-Rezensionen auf Amazon zu lesen.) Natürlich kann man King vorwerfen, dass die Guten alle geimpft sind und die Bösen sich durchweg als Corona-Leugner, Impfgegner, Maskenverweigerer und Trump-Wähler erweisen. Aber Hollys penetrante Fragerei nach dem Impfstatus ihrer Gesprächspartner muss man nicht unbedingt als Belehrung durch den Autor verstehen. Es kann sich auch um einen Charakterzug der Figur handeln, denn Holly hat ein starkes Bewusstsein für Regeln und wurde in früheren Büchern als Person mit leicht autistischen Zügen beschrieben. (Es ist ihr sechster Auftritt, nach vier Romanen und einer Novelle.) Auf jeden Fall wird diese Zeit sehr eindrücklich abgebildet, auch wenn man sie mittlerweile am liebsten vergessen möchte.

Der Roman ist gelegentlich etwas langatmig. Eigentlich wie immer, doch diesmal kommen einem manche Stellen noch ein bisschen länger vor. Besonders die Ermittlungsarbeit hätte man stark kürzen können. »Holly« ist zwar kein Highlight im Gesamtwerk von Stephen King, jedoch solide Unterhaltung. Mit einigen Längen, aber auch mehreren Spannungsspitzen.

Hörbuch:
Stephen King: Holly | Deutsch von Bernhard Kleinschmied
Gelesen von David Nathan | Dauer: 18:41 Std.
Random House Audio 2023 | Jetzt bestellen

Hardcover:
Stephen King: Holly | Deutsch von Bernhard Kleinschmied
Heyne 2023 | 640 Seiten | Jetzt bestellen