Stephen King: Erhebung»Aber wenn du krank wirst, kannst du gar nicht arbeiten«, sagte Ellis. »Du bist ein kluger Kerl, Scott, und du weißt bestimmt, dass Gewichtsverlust nicht nur auf Diabetes hinweisen kann, sondern auch auf Krebs. Unter anderem. Um wie viel Kilo geht es eigentlich?«

»Um dreizehn.« Scott blickte durchs Fenster auf die weißen Golfmobile, die unter dem blauen Himmel über grünes Gras fuhren. Als Foto hätte das gut auf die Website von Highland Acres gepasst. Bestimmt hatten die eine – wie alle heutzutage, selbst Budenbesitzer, die am Straßenrand Maiskolben und Äpfel verkauften –, aber die hatte jedenfalls nicht er erstellt. Er beschäftigte sich jetzt mit größeren Sachen. »Bisher.«

Scott erscheint eines Tages bei seinem ehemaligen Hausarzt Dr. Ellis und berichtet ihm, dass er rasend schnell abnimmt, ohne sich äußerlich zu verändern. Egal, wie viel er isst, sein Gewicht schwindet. Auf der Waage spielt es keine Rolle, ob er Kleidung trägt oder nicht, die Anzeige zeigt immer dasselbe Gewicht. Auch mit zusätzlichen Gewichten kann er es nicht verändern. Der Mediziner ist ratlos.

Scott behält sein Geheimnis für sich, weil er nicht zum Versuchskaninchen in irgendeinem Labor werden will, aber er macht sich Gedanken darüber, was geschieht, wenn sein Gewichtsverlust immer weiter fortschreitet.

Wie so oft bei den letzten Büchern von King spielt das Übernatürliche nur eine Nebenrolle. Das phantastische Element besteht in Scotts Gewichtsverlust, für den es keine medizinische Begründung gibt. Die Handlung dreht sich aber auch um Scotts Nachbarn, ein lesbisches Ehepaar, das in der Stadt ein Restaurant eröffnet hat. Und damit um die Themen Gleichgeschlechtliche Liebe und Ehe-für-alle im Amerika von Donald Trump, wobei man in dem Buch den Eindruck bekommt, dass der Ehestand für die Amerikaner ein größeres Problem darstellt als die Homosexualität. Zumindest in Maine. Das Paar wird dort ebenso gemieden wie sein Restaurant.

Auch Scott hatte bisher kaum Kontakt zu ihnen, außer wenn ihr Hund seinen Rasen als Toilette benutzte. Doch plötzlich beginnt er Interesse für seine Mitmenschen zu entwickeln und tritt sogar öffentlich für sie sein, gegen all die Spötter und Kleingeister in der Nachbarschaft.

Hier zeigt sich wieder einmal Kings Meisterschaft darin, intolerante, bigotte Nebenfiguren zu erschaffen, die einen als Leser wirklich aufregen und ärgern. Vielleicht, weil man selbst solche selbstgerechten Eiferer kennt oder sie sich so gut vorstellen kann. Schon in den letzten beiden Büchern, die ich von King gelesen habe, »Der Outsider« und »Sleeping Beauties«, waren es solche Figuren, die für mich den hauptsächlichen Reiz ausmachten.

Für King’sche Verhältnisse ist »Erhebung« sehr kurz, eigentlich eine Novelle. Trotzdem höre ich mir seine Bücher seit längerer Zeit nur noch als Hörbuch an, weil die Langatmigkeit, die mich in der gedruckten Form oft aufgeben ließ, in der Hörbuchfassung überhaupt nicht auffällt. In Hörbuchform ist King perfekt. Selbst wenn die eigenen Gedanken während des Hörens einmal abschweifen, findet man schnell wieder zurück. Das liegt sicher auch am Vortrag von David Nathan, der einem ein wohliges Gefühl beim Zuhören vermittelt. Auch wenn dies seltsam klingen mag, wenn es sich um die Bücher eines Horrorautors handelt.

»Erhebung« besitzt viele der Qualitäten, die King ausmachen, aber es ist kein Horrorroman und wird deshalb wohl manche Fans enttäuschen. Das phantastische Element des Buches, der unaufhaltsame Gewichtsverlust, ist nur eine Metapher für eine unheilbare Krankheit, den Verlust der Kontrolle über den eigenen Körper und den unausweichlichen Tod. Themen, die King mit zunehmendem Alter immer öfter beschäftigen.

»Erhebung« ist eine Geschichte, die nur selten den Puls des Lesers beschleunigt, aber eine mit einem großen Herzen, klugen Gedanken und vielen anrührenden Szenen. Eine Wohlfühlgeschichte trotz des tragischen Endes. Sehr hörenswert.

Stephen King: Erhebung| Deutsch von Bernhard Kleinschmidt
Gelesen von David Nathan | Dauer: 3:08 Stunden
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