Sie liest weiter, hebt eine Braue. »Sehr schön. Schulzeit in St. Elgin’s. Abschluss in Kunstgeschichte am St. John’s College, Oxford. Sechs Jahre bei Sotheby’s, Echtheit und Zuordnung, dann MI6.« Sie blickt auf und lächelt. »Sehr patriotisch. (…) Im letzten Herbst acht Wochen gemeinsame Operation in Zentralasien.« Ihre Stimme wird weicher. »Ihr Partner bei der DIA hat Ihre Fähigkeiten in den höchsten Tönen gelobt.«
»Tatsächlich? Ich habe den Dienst quittiert.«
»Das ist uns bekannt.« Sie blickt stirnrunzelnd in die Akte. »Dann Afghanistan. Wo es offenbar nicht ganz so gut lief. Hier steht, dass Sie unzuverlässig wurden.«
»In höchstem Maße.«
»Hier steht, Sie hätten in einem Hotelzimmer eine Überdosis genommen.«
»Stimmt. Es war allerdings kein Hilferuf.«
Irgendwo in England taucht ein amerikanisches Diner auf. Vollkommen funktionsfähig, obwohl ohne Strom- und Wasseranschluss. In der Nähe wird eine erste Leiche gefunden, die keine Wunden aufweist, aber allerlei Rätsel aufwirft. Außerdem erscheinen an einigen anderen Orten nostalgische Kinderspielzeuge, deren Herkunft sich niemand erklären kann.
Zwei ungleiche Ermittler werden mit dem Fall betraut: Adam Rubenstein, ein introvertierter Geheimagent mit zahlreichen tödlichen Fähigkeiten, und Sunil Rao, ein chaotischer freier Mitarbeiter mit der besonderen Fähigkeit, ein lebender Lügendetektor zu sein. Im Auftrag der US-Behörden sollen sie eine neue Bedrohung ausschalten, die sich anscheinend der nostalgischen Erinnerungen ihrer Opfer bedient.
Das Buch beginnt wie eine »Akte X«-Folge, und zwar eine, die von David Lynch stammt. Auf dem Klappentext wird »Prophet« ein »genresprengender Thriller« genannt. Das darf man getrost unterstreichen. In dem Sinne, dass er alle Genrekonventionen unterläuft. Thriller-Elemente gibt es viele, ebenso wie Anleihen bei Horror und Science Fiction, aber einen klassischen Thriller darf man nicht erwarten. Eine klar nachvollziehbare Auflösung auch eher nicht.
Das größte Rätsel an diesem Buch ist aber das Buch selbst. Die Handlung reicht gerade mal so für eine Kurzgeschichte und trotzdem blieb ich 520 Seiten lang dran. Weshalb, das kann ich nicht erklären. Ehrlich. Mehr als einmal habe ich mit dem Gedanken gespielt, die Lektüre abzubrechen und kurz darauf hatte ich das Buch schon wieder in der Hand und las weiter.
Es gibt lange Passagen, die ich weder als handlungstreibend noch informativ oder erhellend für das Verständnis der Charaktere bezeichnen würde, aber sie üben trotzdem eine bestimmte Faszination aus. Selten hat mich ein Buch so ratlos zurückgelassen, weil ich einfach nicht erklären kann, wie die beiden Autorinnen diese Wirkung auf mich als Leser hinbekommen haben. Ein ungewohntes, aber auch sehr interessantes Gefühl.
»Prophet« ist ein seltsames Leseerlebnis. Ungewöhnlich, aber faszinierend. Ganz sicher kein Buch für die breite Masse, aber es wird seine Leserschaft finden. Ich bin jedenfalls froh, es gelesen zu haben.
Sin Blaché & Helen Macdonald: Prophet | Deutsch von Thomas Gunkel
Hanser 2023 | 528 Seiten | Jetzt bestellen