Ich nehme einen Schluck meines entkoffeinierten, laktosefreien Biokaffees aus Süd-Mexiko, den blinde und homosexuelle Waisenkinder, deren Eltern von den USA gefoltert und ermordet wurden, weil sie anarchistische Rebellen waren, mit bloßen und extra aus Deutschland eingeflogener PH-neutraler Eigenurin-Bioseife gewaschenen Händen gepflückt und mit ihrer eigenen Körperwärme geröstet haben.
Er schmeckt scheiße.
»Meine liebsten Jugendkulturen aus den Wilden Neunzigern« lautet der Untertitel dieser vergnüglichen Sammlung. Wer wie ich die Neunziger erlebt hat, wird oft wissend nicken und in Erinnerungen schwelgen. Aber auch für alle später Geborenen ist die Lektüre ein großes Vergnügen, denn alle diese Subkulturen sind bis heute erhalten geblieben.
Anhand einer kleinen Clique werden die Klischees aufgezeigt, die jede Wandlung mitmachen muss. Ob als Cosplayer, Emo, Landprolet, Mittelalter-Fan, Backpacker, Sprayer, Deutschrapper oder Fußball-Hooligan. Besonders spaßig sind die Namensschöpfungen der Protagonisten, um sich der jeweiligen Gruppe anzupassen. So wird beispielsweise Florian als Emo nur Trauerflo genannt.
Die Texte sind sehr kurz und erheben nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Abhandlung zu ihrem jeweiligen Thema. Sie gehören zu einer Radiokolumne, die auf radioeins und SWR3 ausgestrahlt wird. Bücher dieser Machart sind nicht dafür geschaffen, sie in einem Rutsch durchzulesen, denn dann ermüden sie den Leser schnell. Aber wenn man bei der Lektüre auf die richtige Dosierung achtet, kann man lange Zeit von diesem Buch profitieren.
Sebastian Lehmann gehört zum engsten Kreis von Känguru-Forscher Marc-Uwe Kling und tritt mit ihm bei der Kreuzberger-Lesebühne »Lesedüne« auf, die man sich auch auf Netflix ansehen kann. Ein weiterer Name, den man sich in diesem Zusammenhang merken sollte, ist Julius Fischer (»Die schönsten Wanderwege der Wanderhure«). Auch witzig.
Sebastian Lehmann: Ich war jung und hatte das Geld | Deutsch
Goldmann 2017 | 188 Seiten | Jetzt bestellen