Sasha Filipenko: Die JagdFür »Studierende ab 50« hält die Magdeburger Universität »Otto von Guericke« eine große Bandbreite an Themen bereit. Als ich im vorletzten Semester an der Vorlesungsreihe »Die kulturelle Entwicklung Russlands ab 2012 (der zweiten Wiederwahl Putins)« teilnahm, meinte eine befreundete Russin, dass es in ihrem Heimatland keine Kultur mehr gäbe. Neugierig geworden folgte ich den Ausführungen der Professorin und griff zu einem der erwähnten Bücher.

So kam ich zu Sasha Filipenkos Roman »Die Jagd«, der 2022 im Diogenes Verlag erschienen ist. Filipenko, in Belarus geboren, studierte in St. Petersburg Literatur und wohnte bis 2020 dort. Wurde sein Roman nach dem Erscheinen in Russland 2016 noch gefeiert, ist er dort inzwischen verboten. Wegen der Verfolgung in seinem Heimatland lebt Sasha Filipenko mit seiner Familie zur Zeit an wechselnden Orten in Westeuropa.

»Die Wahrheit will nie jemand wissen, höchstens Menschen mit Gewissen, die keine Ahnung haben, wie man damit lebt. Die Wahrheit bringt nur Kummer.«

In seinem Roman »Die Jagd« will der junge Investigativjournalist Anton Quint die Machenschaften des Oligarchen Wolodja Slawin aufdecken, der sich durch krumme Geschäfte skrupellos bereichert und in der Öffentlichkeit gern als Patriot präsentiert. Quint ist noch unbedarft, hat erst vor kurzem eine Familie gegründet und ist gerade Vater geworden. Weil er sich der Wahrheit verpflichtet fühlt, will er die Manipulationen der Slawins an die Öffentlichkeit bringen. Um nicht aufzufliegen, muss Slawin nun mit seiner gesamten Familie (Frau, zwei verwöhnte halbwüchsige Kinder) von der Côte d‘Azur nach Moskau zurückkehren und verliert auch seinen Privatjet. Slawin wehrt sich mit einem ganzen Team gegen den engagierten Journalisten Anton Quint.

Zu Beginn des Buches lernt man auch den berühmten Cellisten Mark Smyslow kennen. Welche Rolle er im Verlauf des Buches spielt und warum ihn einige Kritiker für überbewertet halten und ihn als größte Enttäuschung des Jahres bezeichnen, dämmert den Lesenden erst, als die Katastrophe bereits passiert ist. Was hat es mit der Geschichte auf sich, die ihm sein älterer Bruder Lew vor einem wichtigen Konzert erzählt? Lew hat Schulden und ist als Chefredakteur einer Zeitung gescheitert. Er weiß, dass er ohne fremde (illegale) Hilfe keinen festen Boden mehr unter die Füße bekommt. Sein alter Freund Kalo mischt inzwischen bei den schmutzigen Geschäften seines Chefs mit. Ergibt sich da eine gute Gelegenheit, an Geld zu gelangen?

Tatsächlich erhalten Lew und Kola den Auftrag, Quints Recherchen zu stoppen. Ihr Plan ist perfide und menschenverachtend. Sie ziehen als Nachbarn in das Haus der Quints ein, beginnen dort zu stören und durch Lärm zu zermürben. Unterdessen wird Anton in der Presse denunziert und als vom Westen bezahlter Journalist »entlarvt«. Diese Behauptung verbreitet sich schneller als ein Geschwür. Weil Quint Angst vor Hunden hat, legen sich Lew und Kola einen blutrünstigen Kampfhund zu. Als wäre das alles noch nicht genug der Demütigungen, muss sich der geschundene Journalist mit aufgeschlitzten Autoreifen, einer kaputten Windschutzscheibe und dem Diebstahl seines Laptops auseinandersetzen. All das raubt ihm Kräfte und allmählich auch den Verstand. In einem Fernsehbeitrag beklagt sich außerdem Quints Vater über seinen Sohn, weil der sich angeblich nicht um ihn kümmere. Quints Frau schrammt knapp an einer Vergewaltigung durch Lew und Kola vorbei. Quint wird der Kinderpornografie verdächtigt und in einer Talkshow erneut scharf angegriffen. Mit Folgen, die den Lesenden den Atem stocken lassen. Schockiert und angewidert benötigt man spätestens hier eine Lesepause.

In einem zweiten Erzählstrang nimmt man an einem Gerichtsverfahren teil, das im »ExecutionTV« ausgestrahlt wird. Hier wird einem Blogger eine böse Absicht unterstellt, weil er einen leeren Blogeintrag ins Netz gestellt hat. Den Lesenden wird rasch klar, dass hier nur wahr sein kann, was der Staatsanwalt für wahr erklärt. Schnell werden dafür Mehrheiten gefunden. In besagter Gerichtsverhandlung sind es Gläubige, deren Gefühle durch den leeren Blogeintrag verletzt wurden. Willkommen im Russland der 2010er Jahre, wo offensichtlich mit dem Geschäftsmodell, andere zu jagen und sie mit Gewalt zum Schweigen zu bringen, die Kasse kräftig zu klingeln beginnt.

Sasha Filipenko erzählt rasant, jagt einen ebenso zynisch wie sarkastisch durch die Handlung. Seine Charaktere leben, handeln nachvollziehbar und authentisch. Ein Pageturner? Ein bedrohlicher Thriller? Auch das! Hauptsächlich ist Filipenkos Geschichte so klug miteinander verwoben, dass es einen fasziniert und gleichzeitig entsetzt. Der Autor hat den Roman in Sonatenhauptsatzform angelegt und diese dialektisch interpretiert. Zwischen- und Seitensätzen ergänzen die literarische Komposition und schaffen so ein besonders plastisches Szenario. Die Handlung wirkt genauso gnaden- wie illusionslos. Diese Jagd muss zwingend in einem Desaster für alle Beteiligten enden. Für ebendieses hat Ruth Altenhofer, die den Roman aus dem Russischen übertragen hat, genau den richtigen Ton getroffen – in merkwürdigen, zum Teil schroffen Dialogen, gestochen scharf.

Wenn es am Ende von Sasha Filipenkos düsterer Roman-Sonate keine Hoffnung gibt, fragt man sich, wie dunkel die russische Wirklichkeit aussieht. Ein dystopisches Meisterwerk, dessen Wahrhaftigkeit man sich nicht vorstellen mag!

Sasha Filipenko: Die Jagd | Deutsch von Ruth Altenhofer
Diogenes 2022 | 288 Seiten | Leseprobe und mehr | Jetzt bestellen