Rutger Bregman: Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der MenschheitDie Menschheit ist schlecht, nur die dünne Tünche der Zivilisation hält die Menschen davon ab, übereinander herzufallen und sich gegenseitig zu massakrieren. Der Staat, die Armee und strenge Gesetze sind nötig, um die Menschen in Schach zu halten. Das glaubten Machiavelli und Thomas Hobbes, so steht es im »Herr der Fliegen« und so wurde es auch in diversen berühmt gewordenen Versuchsanordnungen nachgewiesen, zum Beispiel im Stanford-Prison- und im Milgram-Experiment. Diese negative Weltsicht beherrscht bis heute unsere Politik. Wer jemals auf einer Demonstration war, auf der einem das polizeiliche »Kommunikationsteam« mit geladenen Schusswaffen entgegentrat, weiß vielleicht, was ich meine.

Der niederländische Historiker Rutger Bregman – bekannt geworden durch den Bestseller »Utopien für Realisten« – hat es sich in seinem im Frühjahr erschienenen Buch »Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit« zur Aufgabe gemacht, das Narrativ des von Natur aus bösen Menschen einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Seine Ausgangsposition:

»Wenn wir glauben, dass die meisten Menschen im Grunde nicht gut sind, werden wir uns gegenseitig auch dementsprechend behandeln. Dann fördern wir das Schlechteste in uns zutage. (…) In diesem Buch werde ich nicht behaupten, dass wir alle uneingeschränkt gut sind. Menschen sind keine Engel. Wir haben eine gute und eine schlechte Seite, die Frage ist, welche Seite wir stärken wollen.«

So unterzog er die beiden eingangs genannten berüchtigten Experimente einer genaueren Untersuchung. Wie war die Versuchsanordnung? Wie war die Herangehensweise der Wissenschaftler? Was sagten im Anschluss die menschlichen Versuchsobjekte dazu? Und tatsächlich findet Bregman fundamentale Fehler, die erprobten wissenschaftlichen Prinzipien widersprechen. Auffallend ist vor allem, dass die Untersuchungsergebnisse schon von Beginn an festgestanden zu haben scheinen.

Doch damit nicht genug: Auch Beobachtungen zum Verhalten von Menschen bei Naturkatastrophen und anderen Unglücken sowie bei Soldaten und Zivilisten in verschiedenen Kriegen lassen Bregman daran zweifeln, dass der Mensch tatsächlich das brutale und egoistische Wesen ist, als das er immer definiert wird. Vielmehr scheint er auch ausgeprägte altruistische Züge zu haben, die es ihm ermöglichen, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt anderer Personen hineinzuversetzen – und sich auch unter der Gefahr eigener Nachteile für sie einzusetzen.

In meiner Zeit auf dem Braunschweig-Kolleg stellte uns ein Lehrer folgende Frage: »Wer glaubt, dass der Mensch von sich aus böse ist? Und wer glaubt, dass er gut ist?« Ich plädierte für gut. Als einziger in der ganzen Klasse. Ich musste mich also irren. Alle anderen schätzten den Menschen an sich als böse ein, als egoistische Kreatur, die stets auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Nur ich offenbarte mich hier als ein gutmütiger Tagträumer. Ich schämte mich ein bisschen für meine Naivität.

Die folgenden Jahre verbrachte ich am Braunschweig-Kolleg mit einem Haufen zumeist ungemein freundlicher Mitschülerinnen und Mitschüler. Sie hatten manchmal ihre Macken, und es gab auch kleinere, letztlich unbedeutende Reibereien. Da sie jedoch geschlossen dafür gestimmt hatten, dass der Mensch an sich böse ist, sollte man doch aber davon ausgehen, dass sie sich selbst ebenfalls für schlechte Menschen hielten. Und sich auch so verhielten. Davon war jedoch nichts zu spüren. Hätten sie sich selbst nicht vielleicht sogar als »gut« eingeschätzt? Und wenn ja – warum hielten sie dann alle anderen für »schlecht«?

Also nochmal: Woran liegt es, dass der Mensch als egozentrisches Wesen angesehen wird? Das sei auf den Einfluss von Wirtschaftswissenschaftlern zurückzufahren, behauptet der Autor:

»Ökonomen sahen den Menschen als Homo oeconomicus. Wir wären ständig mit unserem eigenen Gewinn beschäftigt, wie selbstsüchtige und berechnende Roboter. Auf der Grundlage dieses Menschenbildes errichteten die Ökonomen eine Kathedrale aus Theorien und Modellen, auf denen Unmengen von Gesetzen basieren. In der gesamten Zeit wurde nie untersucht, ob es überhaupt einen ›Homo oeconomicus‹ gab. Erst um das Jahr 2000 besuchten der Ökonom Joseph Henrich und seine Kollegen fünfzehn kleine Gemeinden in zwölf Ländern auf fünf Kontinenten. Sie führten auf der Suche nach jemandem, der dem egoistischen Menschenbild entsprach, dem die Wirtschaftswissenschaftler seit Jahrzehnten anhängen, allerlei Tests mit Bauern, Nomaden, Jägern und Sammlern durch. Ohne Ergebnis. Immer wieder verhielten sich die Menschen sozial und grundgut. (…) Bereits in den 1990er Jahren fragte sich der Ökonom Robert Frank, was das Bild vom Menschen als selbstsüchtigem Wesen mit seinen Studenten machte. Er ließ sie alle möglichen Aufgaben erledigen, bei denen ihre Großzügigkeit gemessen wurde, und was stellte sich heraus? Je länger sie Ökonomie studiert hatten, desto egoistischer waren sie geworden. ›Wir werden zu dem. was wir lehren‹, sagt Frank.«

Doch Bregman geht noch weiter: Philosophen und Theologen, Sozialwissenschaftler und Politiker, Religionsstifter und Staatsgründer – sie alle waren und sind von der Schlechtigkeit des Menschen überzeugt. Unser zivilisiertes Verhalten sei uns nur aufgenötigt worden, doch sobald man uns ließe, würden wir wie Wölfe übereinander herfallen und uns gegenseitig zerfleischen, da sind sich Machiavelli und Hobbes mit Luther, Nietzsche und Freud einig, bei allen sonstigen Unterschieden.

»Erst seit einigen Jahrzehnten kommen Wissenschaftler aus völlig unterschiedlichen Disziplinen zu dem Schluss, dass unser düsteres Menschenbild reif für eine vollständige Überarbeitung ist«, schreibt Bregman. Aber ist das überhaupt gewollt? »Wer sich für den Menschen einsetzt, tritt auch gegen die Mächtigen der Erde an«, stellt er fest: »Für sie ist ein hoffnungsvolles Menschenbild rundherum bedrohlich. Staatsgefährdend. Autoritätsuntergrabend. Schließlich bedeutet es immer, dass wir keine egoistischen Tiere sind, die von oben herab kontrolliert, reguliert und dressiert werden müssen. Es könnte außerdem zur Folge haben, dass der Kaiser keine Kleidung trägt, dass ein Unternehmen mit selbstmotivierten Mitarbeitern vielleicht gut ohne Manager auskommt und eine Demokratie mit engagierten Bürgern keine Politiker mehr benötigt.«

In seinem wegweisenden Buch kommt Bregman zu dem Schluss: »Es ist Zeit für ein neues Menschenbild. Es ist Zeit für einen neuen Realismus.«

Dabei wäre dieser Realismus gar nicht mal so neu. Im Grunde genommen lässt sich die Auseinandersetzung über die Natur des Menschen mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen. Auf der einen Seite haben wir den britischen Staatstheoretiker Thomas Hobbes, den Begründer der Fassadentheorie, und auf auf der anderen den französischen Gutmenschen Jean-Jacques Rousseau. Hobbes unterstellte, dass Menschen einen »Krieg eines jeden gegen jeden« (»Bellum omnium in omnes«) führen würden, wenn nicht ein Alleinherrscher, der Leviathan, sie davon abhielte. Rousseau hingegen glaubte an einen »Naturzustand«, in dem die Menschen einander mit Mitgefühl begegnet seien. Eben jener Hobbes beeinflusste nachhaltig die Wirtschaftswissenschaft. Von Rousseau ließen sich hingegen viele Pädagogen inspirieren. Im Grunde genommen können die beiden sogar als Urväter der Konservativen/Rechten (Hobbes) und Progressiven/Linken (Rousseau) angesehen werden.

Doch Bregman unternimmt auch Ausflüge in die Biologie und Verhaltensforschung und besucht hierfür eine Fuchszucht in Sibirien, bei der er ein »survival of the friendliest« erkennt. Seine Schlussfolgerung: »Was Hunde im Vergleich zu Wölfen sind, sind wir verglichen mit Neandertalern.« Denn was uns von vielen Tieren unterscheidet, so Bregman, ist das, was er »social learning« nennt: »Menschen scheinen supersoziale Lernmaschinen zu sein.«

Mehr noch: »Unsere Emotionen treten offen zutage. Wir sind darauf ausgerichtet, Verbindungen mit den Menschen unserer Umgebung herzustellen. Und das ist kein Handicap, sondern unser größtes Kapital. Soziale Menschen sind nämlich nicht nur eine nettere Gesellschaft, sie sind letztlich auch klüger.« Bregmans Schlussfolgerung:

»Als ich das verstanden hatte, fand ich die Evolutionstheorie nicht mehr so deprimierend. Vielleicht gibt es keinen Gott, keinen Schöpfer und keinen kosmischen Plan. Vielleicht ist unsere Existenz nach Millionen Jahren blinder Evolution ein bizarrer Zufall. Aber wir sind zumindest nicht allein. Wir haben einander.«

Man muss Bregman nicht in allen Gedankengängen und Schlussfolgerungen folgen, um anzuerkennen, dass hier ein wichtiges Werk geschaffen wurde. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass hier die Weltgesellschaft von morgen angedacht wird.

Rutger Bregman: Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit
Deutsch von Ulrich Faure und Gerd Busse | Rowohlt 2020 | 480 Seiten
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