Roy Thomas und Comic-Legende Stan Lee verband eine lange Geschichte. Noch als Student veröffentlichte Thomas in seinem Fanzine »Alter Ego« einen enthusiastischen Artikel über die erste Ausgabe der »Fantastic Four«, mit der Lee 1961 das »Marvel Age of Comics« eingeläutet hatte. Keine vier Jahre später wurde der angehende Junglehrer aus Missouri die rechte Hand des Vielschreibers, bis er 1972 sogar dessen Nachfolge als Chefredakteur antrat, was schließlich zu ersten Misstönen zwischen ihnen führen sollte. Doch trotz gelegentlicher Tiefen hatte Thomas‘ Beziehung zu seinem einstigen Mentor bis zum Schluss bestand. Wer wäre also besser geeignet als er, um dessen Lebensgeschichte aufzuzeichnen?
Die Originalausgabe der »Stan Lee Story« erschien bereits 2019 im XXL-Format. Es war das letzte Projekt, das Lee zu Lebzeiten abgesegnet hatte. Ein Coffee Table Book, das mit vier Beinen leicht selbst als Coffee Table durchgehen könnte. Netterweise hat der Taschen Verlag nun eine etwas handlichere Volksausgabe nachgeschoben, die mit einem Gewicht von 4282 Gramm noch immer als wuchtiger Prachtband (oder brauchbares Tötungsobjekt) daherkommt.
Stan Lees Geschichte wurde mittlerweile oft erzählt, doch nie mit einer solchen Detailverliebtheit. Wird eine Persönlichkeit oder eine noch so obskure Comicfigur aus längst vergangenen Tagen erwähnt, kann man sicher sein, dass spätestens auf der nächsten Seite eine erklärende Abbildung auftaucht, was den Unterhaltungswert der Faktenflut enorm steigert. Für Fans ist das Buch eine echte Fundgrube, denn oft werden Originalseiten abgebildet, deren Ränder mit diversen Anmerkungen versehen sind, die interessante Einblicke in den Produktionsprozess erlauben. Etliche Cover und Comicseiten erscheinen im Überformat. Man kann also förmlich in die Bilderwelten eintauchen.
Nur wenigen Biografen ist es zudem vergönnt, so intim mit ihrer Materie vertraut zu sein wie Roy Thomas, der ab 1965 hautnah miterleben durfte, wie ein unbedeutender Comicverlag zu einem weltweiten Phänomen wurde und sein Chef zu einer Kultfigur. Als Insider kann er mit etlichen Anekdoten aufwarten, die viel von der Zeit vermitteln, in der Marvel eine ganze Branche revolutionierte. Andererseits ist er darauf bedacht, heikle Themen – wie das unrühmliche Ende des Internet-Fiaskos »Stan Lee Media« – möglichst diskret zu umschiffen um keinesfalls das Image des großen Mannes anzukratzen.
Überhaupt scheint die »Stan Lee Story« gegen Ende hin hauptsächlich aus Arbeit zu bestehen. Unser Chronist wird gerade hier nicht müde, berühmte Persönlichkeiten aufzulisten, denen die greise Ikone in ihren letzten Lebensjahren begegnet ist. Auch die Gastauftritte in Filmen und Fernsehserien werden gewissenhaft abgehandelt.
In seiner Einführung schreibt Lee, dass sein Leben im Grunde langweilig war, da er die meiste Zeit über einer Schreibmaschine gebeugt saß. Der schwächste Teil des Buchs sind dennoch die Jahre nach 1980, in denen »Stan the Man« seiner Schreibmaschine weitgehend den Rücken gekehrt hatte, um sein Glück in Los Angeles zu versuchen. Dieser späte Versuch, sich neu zu erfinden, fand zu seiner großen Enttäuschung nicht die gewünschte Resonanz.
»Möchtest Du lieber ein großer Fisch in einem kleinen Teich sein, oder ein kleiner Fisch in einem großen?«, warnte er nur ein paar Seiten zuvor einen seiner Zeichner, der vor einem ähnlichen Dilemma stand. Lee selbst versuchte sich im großen Haifischbecken Hollywoods, in dem keines seiner Drehbücher realisiert wurde. Alle Versuche, dem Comic-Ghetto zu entfliehen, scheiterten, bis ihn der Erfolg der Marvel-Filme doch noch zum späten Medienstar machte. Den großen amerikanischen Roman, von dem der junge Stanley Martin Lieber einst träumte, schrieb er allerdings nie.
Glücklicherweise machen die Jahre davor den Löwenanteil des Buchs aus. Hier erfährt man auch einiges über den Menschen Stan Lee und wie er als unbedarfter Jüngling zum Chefredakteur eines Comicverlags avanciert, der seinem Verwandten Martin Goodman gehört. Auch wenn er sich von Anfang an zu Höheren berufen fühlt, wird er den Posten drei Jahrzehnte lang innehaben. In den Anfangsjahren lebt er unbekümmert in den Tag hinein, schippert mit seinem 20-Dollar-Auto um die Häuser und hat diverse Dates, wie mit der zukünftigen Kriminalschriftstellerin Patricia Highsmith, die ebenfalls für Goodman schreibt.
Kreative Höchstleitungen vollbringt er nicht. Auch wenn ihm letztendlich die Superhelden zu Ruhm und Reichtum verhelfen werden, gehört seine eigentliche Vorliebe »Millie the Model« und anderen »Career Girls« für ein junges weibliches Publikum. Hier kann er auch seinen Hang zu Wortspielen und Alliterationen ausleben. Sie sind die eigentlichen Vorläufer des von Liebeskummer gebeutelten »Spider-Man«.
Der Erfolg kommt erst, nachdem er die 40 überschritten hat. Neben seiner Arbeit als Chefredakteur schreibt der Workaholic nach Feierabend und an den Wochenenden fast im Alleingang das gesamte Verlagsprogramm. Später kommen Interviewtermine und Auftritte an Universitäten hinzu. Den einstündigen Weg zur Arbeit legt er aus Prinzip nur mit dem Auto zurück, denn wer über dreißig ist und die U-Bahn nimmt, ist ein Versager – und das wäre das Letzte, was Stan Lee sein möchte. Stattdessen ist er ein Zwiegespaltener, der zwar nach oben strebt, aber die Firma seines Onkels nie verlassen wird.
Obwohl er den großen amerikanischen Roman nie geschrieben hat, sind Lees Comics dennoch große Literatur, behauptet Roy Thomas. Schließlich sind seine Helden fest im kollektiven Bewusstsein verankert, was ihn automatisch zu einem bedeutenden Autor macht. Den Wahrheitsgehalt dieser Aussage, kann man am Ende des Buchs selbst überprüfen. Auf 130 Seiten wird ein bunter Querschnitt des Lee’schen Œuvre dargeboten.
Wie bei allen Ausgaben der Marvel-Bibliothek entschied man sich beim Taschen Verlag dazu, die längst vergilbten Originalausgaben zu scannen. Der Effekt ist faszinierend, da die drucktechnischen Unsauberkeiten der alten Hefte in doppelter Größe zum Stilelement werden und die abgebildeten Seiten aus einer anderen Welt zu stammen scheinen. Roy Lichtenstein lässt grüßen. Es ist vor allem Lees unbekümmerter Wortwitz, der hier zum Tragen kommt. Was die Marvel Comics von der etwas drögen Konkurrenz unterschied, war ein ironisches Augenzwinkern, das bei aller Ernsthaftigkeit stets spürbar war. Wer wissen möchte, wie sich die »Swinging Sixties« damals anfühlten, findet hier aussagekräftiges Beweismaterial.
Trotz der bereits erwähnten Einwände: Allein wegen des Bildmaterials ist dieses unterhaltsam geschriebene Buch ein Träumchen. Selbst Fans, Alleswisser und Ober-Nerds werden hier Neues entdecken. Zudem ist Roy Thomas Sachkenntnis wohl einzigartig. Mittlerweile 84 Jahre alt, gibt er noch immer das Fanzine heraus, mit dem seine Verbindung zum Titelgeber dieses Buchs einst begann.
»The Stan Lee Story« feiert ausnahmslos die Legende. Und warum auch nicht? Wie auf einer Jubiläumsfeier würden Misstöne die Stimmung trüben, denn manchmal ist es einfach nett, sich nur an Positives zu erinnern. Selbst sein Tod findet lediglich in einem Nachtrag Erwähnung. Stattdessen schwelgt der opulente Bildband in einer wunderbar naiven vierfarbigen Vergangenheit, in der alle Comicleser wussten: Mit großer Macht kommt große Verantwortung.
Weitere Informationen zu diesem außergewöhnlichen Band gibt es bei taschen.com.
Roy Thomas: The Stan Lee Story | Englisch
Taschen Verlag 2025 | 576 Seiten | Jetzt bestellen