Ross Macdonald: Mutter und Tochter»The Wycherly Woman«, so der Originaltitel dieses Lew Archer-Krimis aus dem Jahr 1961, hätte vielleicht sogar besser »The Wycherly Women« heißen sollen, denn hier stehen ganz klar zunächst Mutter und Tochter der Familie im Vordergrund. Die eine (Tochter Phoebe) ist schon seit einiger Zeit verschwunden, während ihre Mutter (Catherine) keine Gelegenheit auslässt, ihrer Familie zu schaden, und ihr haltloser Alkoholkonsum sowie ihr insgesamt völlig desolater Zustand gipfelte seinerzeit in einem hochnotpeinlichen Auftritt, als sie an Bord eines Schiffes, mit dem ihr Ex-Mann eine Erholungsreise antreten wollte, diesem eine Szene machte und ihn in wenig ladyliken Worten aufs Übelste beschimpfte.

Homer Wycherly beauftragt nun Lew Archer, seine Tochter wiederzufinden, an der er sehr hängt. Was hingegen mit seiner ehemaligen Frau passiert, ist ihm herzlich gleichgültig. Das Band zwischen diesen beiden ist rettungslos zerschnitten. So aufbrausend ihr Vater sich Lew Archer gegenüber aufführt, so labil ist das Bild, welches er und alle anderen, mit denen der Detektiv im Laufe des Romans spricht, von Phoebe zeichnen. Ihr Studium in Stanford (Homers Alma Mater) bricht sie ab, um stattdessen nach Boulder Beach zu wechseln, offenbar um nicht weiter dem Leistungsdruck der erstgenannten Universität ausgeliefert zu sein. Zweifellos macht ihr auch das Zerwürfnis ihrer Eltern schwer zu schaffen.

Die besagte Schiffsszene ist der Ausgangspunkt für Archers Forschungen und je weiter er sich in den Fall verbeißt, desto mehr Abgründe öffnen sich vor ihm. Ausgehend von den Wycherlys, die durch Öl zu Geld gekommen sind, trifft er im Laufe der Handlung mehr und mehr auf Personen, die vom Leben weniger begünstigt wurden und er muss tief in die Niederungen der amerikanischen Gesellschaft hinabsteigen, um das Geheimnis um die Familie Wycherly sowie das mysteriöse Verschwinden ihrer Tochter zu lösen.

Wie immer sind es bei Ross Macdonald die Milieustudien, die die Leserinnen und Leser faszinieren. Hier die mondäne, scheinbar heile Welt der Reichen und im Gegensatz dazu – gefühlt nur einen Steinwurf entfernt – das Elend, die Tristesse und die Resignation der Bedürftigen, die versuchen, sich entweder redlich durchs Leben zu kämpfen oder auf die schiefe Bahn geraten und vor Erpressung oder Schlimmerem nicht zurückschrecken. In beiden Fällen auf lange Sicht gesehen jedoch ohne Erfolg.

Macdonalds Archer ist kein Superheld, dem alles gelingt. Er ist ein Mensch mit Schwächen wie wir alle und einem hohen Maß an Empathie, welches ihn die Nöte der vom amerikanischen Traum Enttäuschten verstehen lässt. Seine Einfühlsamkeit ist mit ein Grund für seinen Erfolg, denn so erfährt er oft Sachverhalte und kitzelt aus seinem Gegenüber Informationen heraus, die sie sonst vielleicht nicht preisgegeben hätten.

Ross Macdonald: Mutter und Tochter | Deutsch von Karsten Singelmann
Diogenes 2018 | 416 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen