1950 haut Wolfgang Köhler von zu Hause ab. Morgens um fünf hat er seine Sachen gepackt, ist über die Hauptstraße vor dem Haus gelaufen und hat den Bus nach Chemnitz genommen. Ist vorbeigefahren an Vaters Schlossereibetrieb, nie wieder in diese verdammte graue Garage. Das nervige Geschrei vom Alten, der Kommisston der Gesellen – los, Wolli, hol ma Bier für die Belegschaft, Wolli, wisch das Schmieröl weg, Wolli, Werkstatt fegen, der Kleinste macht den Dreck weg. Schon lange denkt er über diesen Ausbruch nach.

Vorbei an dem Gefängnis, dem riesigen Knast im Herzen Waldheims, dem größten Zuchthaus Sachsens. Da wo andere Städte das Rathaus und den Marktplatz haben, da hat Waldheim den Knast. So, als ob man sein Leben lang darauf hinarbeiten würde, endlich in den Kern der Stadt vorzudringen, in dem man dann für immer bleiben müsse. Aus dieser Stadt kommst du nicht lebend raus, es sei denn, du machst dich rechtzeitig aus dem Staub.

Als das Stadtschild im letzten Dunkel der Nacht hinter ihm zurückbleibt, wird er ruhiger, bald schon geht die Sonne auf.

Das Buch beginnt mit einem kurzen historischen Abriss von St. Pauli und widmet sich dann den frühen Jahren von Hauptfigur Wolfgang »Wolli« Köhler, um im Anschluss die beiden Protagonisten des Romans zusammenzubringen. Wolli kommt Anfang der Sechziger Jahre nach Hamburg, auf der Suche nach Abenteuer, Freiheit und Selbstverwirklichung. Er findet eine Beschäftigung als Anreißer und erlebt die ersten Auftritte der noch unbekannten Beatles, die er anfangs sehr lahm findet.

Schnell lebt sich Wolli auf St. Pauli ein. Seine Freundin geht auf den Strich, und er wird auf ihren Wunsch hin zu ihrem Zuhälter. So erleben sie gemeinsam eine Zeit des Wohlstandes, während das Viertel wächst und gedeiht. Wolli verfolgt, wie die damals noch fünf Beatles ihren Stil finden und immer besser werden. Auch andere historische Persönlichkeiten kreuzen seinen Weg, wie beispielsweise der Boxer Norbert Gruppe, der sich Prinz von Homburg nennt. Sein legendäres »Interview« kennt man, auch wenn man sich nicht für Sport interessiert. Ereignisse wie die Flut von 1962 und die Spiegel-Affäre, die in die Handlung eingeflochten werden, erlauben immer eine zeitliche Einordnung von Wollis Aufstieg.

In der spießigen Nachkriegszeit etabliert er die ersten Live-Sex-Nummern auf einer Bühne und findet Gefallen am Vorführen von schwedischen Pornofilmen. Aber die Konkurrenz schläft nicht, und Wolli wird durch permanente Razzien bei seinen »erotischen Lichtspielabenden« zermürbt. Immer mehr erlebt er auch die dunklen Seiten des Geschäftes, das immer mehr zu einem ebensolchen verkommt. Folgerichtig endet das Buch auch mit der geplanten Eröffnung von zwei siebenstöckigen Eros-Centern.

»Große Freiheit« zeichnet ein stark romantisiertes Bild von St. Pauli, bevor das Viertel seine Unschuld verlor und es nur noch um Geld ging. Als die Zuhälter noch hauptsächlich Musikfans und Liebhaber von schwedischen Schmuddelfilmchen waren, die im privaten Rahmen vorgeführt wurden, mit anschließenden Orgien. Inwieweit es sich dabei um eine realistische Darstellung handelt, kann ich nicht beurteilen. Aber Hauptfigur Wollis kommt einem oft viel zu nett und anständig vor, um sich auf dem Kiez durchsetzen zu können. Der Autor kann seine Sympathie für den Helden nicht verbergen und will das auch gar nicht. Diese Sympathie überträgt sich auch auf den Leser. Obwohl Wolli nicht bis ins kleinste Detail charakterisiert wird, ist er als Figur doch eindeutig zu greifen.

Eine weitere Stärke des Buches sind die zahlreichen Szenen, die sich mit der damaligen Musikszene beschäftigen. Sehr interessant fand ich, dass die Rolling Stones das Image von harten Rockern haben, während die Beatles als brave Popmusiker gesehen werden, dabei haben sich die Liverpooler als unbekannte Band im Nachtleben auf St. Pauli behaupten müssen. Der Aufstieg der Beatles und die Auftritte von Little Richard und Gene Vincent werden sehr unterhaltsam beschrieben, sie zählen zu den Höhepunkten des Buches.

Ein großes Vergnügen sind auch die Anreißersprüche aus Wollis Anfangstagen und die Millieunamen wie Schweine-Hans und Ochsen-Harry. Die zahlreichen Sexszenen, die bei einem solchen Thema nicht fehlen dürfen, sind saftig, aber nie billig. Und mit Wollis Chef Karl kommt auch eine bedrohliche Figur ins Spiel, die direkt aus einem Scorsese-Film stammen könnte. Vielleicht spielt der Autor ja schon mit dem Gedanken an eine Fortsetzung, die sich mit den folgenden Dekaden beschäftigt. Diese würde natürlich sehr viel düsterer und deprimierender ausfallen, aber ich würde sie sehr gerne lesen.

Kritisch muss ich zu »Große Freiheit« allerdings anmerken, dass der Autor (dieses Mal) nicht die beste Wahl als Sprecher für das Hörbuch war. Schamonis Plauderton hat mir bei seinen früheren Hörbüchern sehr gut gefallen, aber bei dieser Geschichte hätte ein distanzierter Erzähler wohl besser funktioniert. Stattdessen fällt der Sprecher des Öfteren durch übertriebene Betonung und den ein oder anderen unpassenden Ton auf.

Fazit: Große Freiheit ist ein großartiger Unterhaltungsroman, den man einfach mögen muss. Aber ich würde die gedruckte Form empfehlen.

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