Robert Harris: Vergeltung

Die Corona-Zeit zwang so viele Kulturschaffende dazu, von ihren gewohnten Pfaden abzuweichen. Von Musizierenden ist man hinlänglich über die guten wie schlechten Optionen informiert, aber auch Schriftsteller mussten umdenken. Der britische Historien-Thriller-Experte Robert Harris etwa setzte sich an seinen Schreibtisch, wälzte Geschichtsbücher zum Thema V2 (so auch der Originaltitel des vorliegenden Buches) und verfasste einen wertvollen Überblick über die von den Nazis nach ihrem eigentlich längst erfolgten Niedergang konzipierte Vergeltungswaffe. Man erfährt die Sachlage aus Sicht deutscher Ingenieure und britischer Militärs, wie immer bei Harris festgemacht an fiktiven Figuren, die er mitten ins Geschehen setzt. Was »Vergeltung« indes fehlt, ist eine vernünftige Handlung – als Geschichtsbuch immerhin ist es hervorragend.

Das Konzept kennt man bei Harris bereits von seinem thematisch vergleichbar gelagerten Roman »München«. Man begleitet historisch unbedeutende, aber für die Sache relevante Nebenfiguren, wie sie im Zweiten Weltkrieg ihren jeweiligen Aufgaben nachgehen; hier sind es der deutsche Ingenieur Dr. Rudi Graf und die britische Mitarbeiterin der WAAF, Women’s Auxiliary Air Force, Kay Canton-Walsh. Während Graf die Rakete ursprünglich an der Seite von Wernher von Braun als Gefährt konzipieren wollte, um damit den Mond zu erreichen, und sich jetzt desillusioniert dazu gezwungen sieht, von der niederländischen Küste aus diese Raketen als todbringendes letztes Aufbäumen der Nazis auf London und Antwerpen zu feuern, verbringt Kay ihre Zeit damit, die Abschussstellen der V2 auf Luftbildern ausfindig zu machen.

Anschaulich vermittelt Harris, warum dies nicht gelingt, und mit welchem mathematischen Trick Großbritannien den Nazis trotzdem auf die Schliche kommt. Dazu vertieft er Informationen zur Geschichte der V2 von Peenemünde über Nordhausen bis Scheveningen bei Den Haag, gibt eindrucksvolle technische Details wieder und vermittelt den Blick ins hilflose, aber zerstörerische taktische Nähkästchen der eigentlich längst geschlagenen Nazis. Auf der anderen Seite erfährt man über die Verteidigungsmittel Großbritanniens sowie den kriegsgebeutelten Alltag im bedrohten London wie im befreiten belgischen Städtchen Mechelen, von dem aus die Briten die nur wenige Kilometer nördlich agierenden Nazis ausfindig machen.

Hier baut Harris nun alles ein, was ihm an nicht historischen oder technischen Aspekten relevant erscheint. Die für die Nazis arbeitenden Ingenieure finden die Nazis Scheiße, bis auf viele SS-Leute geht es den meisten Nazis ebenso. Nach wie vor geht von Hitlers Apparat zwar dennoch eine bedrohliche Gewalt aus, doch nehmen es Graf und seine Leute zuweilen eher gelassen und bleiben trotz Verhören und Kontrollen relativ unbehelligt. Alsbald verbündet sich Graf mit einer niederländischen Prostituierten aus dem eigens von den Nazis eingerichteten Bordell, die zum Widerstand gehört – und dafür ihr Leben lassen muss. Kay hingegen sieht sich einer aufgelassenen Liebschaft mit einem wichtigen Militär ausgesetzt, die ihr zunächst im Belgien-Projekt einige Ablehnung von den missgünstigen Kolleginnen beschert, aber nur kurz, dann findet sie neue Freundinnen. Anschließend lässt sie sich auf den Sohn ihres lokalen Gastgeberehepaars ein und entdeckt in der Familie ein schwerwiegendes böses Geheimnis, das sie an höherer Stelle preisgibt.

Hat man die geschichtlichen Abläufe zur V2 nicht so auf dem Schirm, freut man sich über diese anschauliche Zusammenfassung. Mehr als das ist »Vergeltung« indes kaum, die privaten Nebenhandlungen sind wenig mehr als Beiwerk und selten von Spannung durchzogen, dafür erzählt Harris zuweilen etwas zu langatmig. Zudem ist seine Sprache streckenweise uninspiriert, manche sprachlichen Bilder sind so durchgekaut, dass man sich von ihm etwas Eigenes erwartet hätte. Beispielsweise »das schnelle Bamm-Bamm-Bamm der Flakgeschütze« oder die Passage mit dem schwerfällig anspringenden Auto, die ausschließlich aus Bausteinen besteht. Andererseits gelingt es ihm vortrefflich, Bilder von Raketenabschüssen auch akustisch, geschmacklich und olfaktorisch nachempfindbar zu beschreiben.

Anders als in »München« kreuzen sich die Wege von Kay und Graf erst ganz am Schluss. Graf gehört zu einer Gruppe von Ingenieuren, die sich die USA nach Kriegsende für eigene Zwecke unter den Nagel reißen, darunter bekanntlich auch den SS-Mann Wernher von Braun. Graf bleibt aus amourösen Gründen in England – und Kay und er decken auf, dass beider Länder offizielle Angaben zu Zerstörungen auf dem jeweilig befeindeten Gebiet propagandagesteuert komplett erfunden waren.

Als Geschichtsbuch ist »Vergeltung« vorzüglich, als Thriller hingegen bedauerlicherweise nicht. Dennoch erstellten andere Kulturschaffende im Lockdown schwerer zu Konsumierendes als Harris mit »V2«.

Robert Harris: Vergeltung | Deutsch von Wolfgang Müller
Heyne 2020 | 368 Seiten | Jetzt bestellen