Robert Harris: Der zweite SchlafDieses Buch sollte man dringendst zu lesen beginnen, ohne etwas darüber zu wissen, dann wirkt nämlich der recht frühe Twist umso besser. Wer sich davon indes packen lässt, den enttäuscht Robert Harris jedoch auf Strecke: Aus der höchst spannenden Ausgangslage mit verbotener Archäologie in einem repressiven mittelalterlichen Kirchenstaat macht er eine emotionslose Dreiecksgeschichte mit erdrutschartig hingeschludertem Schluss. Merkwürdig für so einen versierten Meister des Thrillers. Und was überhaupt genau ist eigentlich »Der zweite Schlaf«?

Zu Beginn führt Harris die Lesenden auf eine wohltuende Art in die Irre: Man begleitet den Priester Christopher Fairfax im Jahre 1468 durch abgelegene Landschaften westlich von London, um in einem noch abgelegeneren Dörfchen einen verstorbenen Amtskollegen beizusetzen. Alles ist so finster, wie man sich das Mittelalter vorstellt, daher findet man sich schnell in dem vertrauten Setting zurecht. Bis Fairfax im Nachlass des Verstorbenen obskure Gegenstände findet, darunter einen Kugelschreiber. Man wundert sich, dass dem Übersetzer so ein Fauxpas unterlaufen ist, bis man am Ende der Auflistung begreift, dass man sich von Harris foppen ließ: Fairfax hält einen flachen Glasgegenstand mit einem angebissenen Apfel auf der Rückseite in der Hand.

Nun also, auf in ein neues Setting: Das Jahr 1468 ist zeitlich rund 800 Jahre nach heute angesetzt, was verwirrend klingt, wenn man noch nicht weiß, dass es im Jahre 2025 unserer Zeitrechnung zu einer die Zivilisation auslöschenden Katastrophe kam, in deren Folge nahezu sämtliches Wissen verloren ging, sich ein Kirchenstaat etablierte und der die neue Zeitrechnung im Armageddonjahr mit 666 beginnen ließ. Es erfordert mithin einiges an Rechenarbeit, die im Buch folgenden zeitlichen Zusammenhänge zu erfassen. Dieser Kirchenstaat nun macht die Technikhörigkeit unserer jetzigen Zivilisation für den Kollaps verantwortlich und verbietet bei schlimmster Strafe jegliche Archäologie und Altertumsforschung, die die Erinnerung an diesen Götzendienst wecken könnten. Und da gerät der noch junge Priester Fairfax in die Bredouille: Nicht nur verbotene Exponate, auch als komplett vernichtet geltende Literatur eines ebenfalls verbotenen Historikerzirkels findet er in des Kollegen Behausung, und da er außerdem an dessen Tod Unstimmigkeiten ausmacht, beginnt er zu zu ermitteln und zu blättern – und verfällt der ketzerischen Lektüre.

Hat der Priester erst mit der Ketzerei geliebäugelt, fallen bei ihm auch weitere Hemmschwellen; Fairfax emanzipiert sich quasi aus dem Stand vom bei Harris einmal mehr gerügten Katholizismus (siehe »Konklave«) und schart Gleichgesinnte um sich, darunter Dorfbewohner aus Addicot St George sowie den noch immer lebenden Autoren der verbotenen Bücher und dessen Assistenten. Gemeinsam wollen sie dem Geheimnis der Ruine eines am Dorfrand aufragenden uralten Turmes auf den Untergrund gehen. Eine Zäsur, denn ab hier beginnt die Geschichte dann kurioserweise, herumzueiern und lieblos zu werden.

Alles geht plötzlich vergleichsweise glatt und erfolgt recht unbehelligt vom Staat, trotz erhobener Zeigefinger, denn einer der Verschwörer ist stinkreich (er errichtet eine Webereiindustrie, ohne dass ihm die Kirche wegen verbotenen Fortschritts auf die Finger klopft). Auch Explosionen, nächtliche Lagerfeuer und in die Berge ziehende Arbeiterscharen wecken nicht den Argwohn der Dorfbewohner oder der Kirche, dafür muss erst ein Verräter her. Der Regen ist letztlich das einzige Hindernis für die Erdwühler, und dessen Folgen beenden die Geschichte wie ein Deus ex machina.

Mittendrin wickelt Fairfax teilweise unbewusst zwei Frauen um seinen Finger, und weil er ja schon so am Herumketzern ist, spannt er die eine davon auch gleich ihrem versprochenen künftigen Ehemann aus, der gleichzeitig eigentlich einer der Verbündeten ist. Diese Art der Dreiecksgeschichte ist selten wirklich spannend, weil zur Genüge erzählt, und in diesem Buch zudem auch ohne Folgen, wie so vieles, was man hier eigentlich bequem als Spannungselement hätte installiert haben können. Stattdessen treibt Harris die Suche nach einem Geheimnis voran, das eigentlich längst schon keines mehr ist, lediglich einige Details tragen Überraschendes in sich. Auch das handelt er jedoch ohne großen Knalleffekt wie nebenbei ab, passend zur Beiläufigkeit, die die Charaktere mittlerweile tragen – man fiebert mit keinem mehr so richtig mit.

Und wenn man sich erst so abrupt aus der Geschichte herausgeworfen wiederfindet, beginnt man auch über den Rest nachzudenken: Harris fädelt es ja geschickt ein, dass er auf die nicht konkret benannte Katastrophe (vermutlich irgendwas mit Internet) zunächst ein Jahrhundert des orientierungslosen Umherirrens und Überlebenskampfes folgen lässt, in dem das Wissen unserer Zeit keine Relevanz mehr hat. Die Menschheit besinnt sich darauf, dass die Kirche ja die besseren Lebensentwürfe mit sich bringt, und fügt sich deren Diktaten. In England, ja: Aber was ist mit dem Rest der Welt? Es ist schwer vorstellbar, dass der Arm der englischen Kirche einmal um den Globus reicht. Die Positionen der Figuren sind auch mehr als zweifelhaft; wie ist es möglich, dass etwa eine Person wie die Lady ihren Lebensstil in dieser Art von Neo-Mittelalter nicht nur uneingeschränkt austoben darf, sondern darin auch noch begehrt ist? Noch etwas lässt Harris im Sande verlaufen: Sobald diese Lady in Fairfax‘ Leben tritt, verschwindet die erblühende Liebe der stummen Tochter im Pfarrhaus aus der Handlung und bekommt lediglich einen nachgereichten Fußtritt, völlig unempathisch; für ihren Vater lässt Harris Fairfax weit mehr Mitgefühl haben. Und zuletzt bleibt offen, was es mit dem kryptisch eingeführten »zweiten Schlaf« überhaupt auf sich hat; vermutlich meint Harris damit den Ausgang der Expedition.

Selbstredend springt Harris mit seinen Katastrophenszenarien auf aktuelle Mahnungen auf, er bedient mithin den Zeitgeist, aber das ist legitim. Virtuelles Geld, Abhängigkeit von Clouds und Elektrizität, Plastik statt abbaufähige Materialien, mangelnde Vorratshaltung; die Forscher stoßen auf vieles, das für uns normal ist und nach dieser Erzählung 2025 den Kollaps herbeiführt, und er bindet alles geschickt und gut recherchiert in die Geschichte ein. Man bekommt eine erschreckende Idee davon, wie unsere Welt aus der Sicht künftiger Archäologen aussehen könnte. Dabei lässt Harris überdies Historiker eine Liste an präapokalyptischen Ruinen aufstellen, die man wohl nur dann mit einem Aha-Effekt liest, wenn man sich in England auskennt; ein Gag für Insider, es sei denn, es existieren gar keine realen Vorbilder für diese Relikte.

Letztlich wirkt »Der zweite Schlaf« wie ein immerhin erfrischendes Jugendbuch mit schludrigem Schluss, aber nicht wie ein dystopischer Roman aus der Feder eines ausgewiesenen Thriller-Experten. Dessen ein, zwei vorangehende Romane indes ebenfalls bereits auf dünnerem Acker bestellt waren; hoffentlich zeichnet sich da keine Tendenz ab. In den historisch angelegten Romanen errichtete Harris stets ein dichtes und verschachteltes Handlungsgerüst um realen Persönlichkeiten nahestehenden Figuren herum; diese gibt es in einem SciFi-Buch natürlich nicht, und schon fehlt dem Autoren der feste Griff um Personal und Story. Mit »Der zweite Schlaf« kehrt Robert Harris nach diesen unzähligen politisch und historisch angelegten Thrillern indes quasi zu seinem Auftakt zurück: Wie bei »Vaterland« basiert die Handlung auf einer Annahme, nur dass sie hier sehr weit in der Zukunft liegt. Für die Zukunft nun wünscht man sich wieder bessere Thriller aus Harris‘ Feder.

Robert Harris: Der zweite Schlaf | Deutsch von Wolfgang Müller
Heyne 2019 | 415 Seiten | Jetzt bestellen