Richard Ford: KanadaDas Vorspiel zu schrecklichen Ereignissen kann lächerlich sein, ganz wie Charley gesagt hatte, aber auch beiläufig und unauffällig. Es lohnt sich, das zu erkennen, denn es zeigt den Ursprung vieler schrecklicher Ereignisse an: einen Zentimeter vom Alltag entfernt.

In Kanada analysiert der Ich-Erzähler Dell Parsons aus dem Rückblick vom Ende seines Lebens, wie seine Eltern 1960, als er 15 war, eine kleine Bank in North Dakota überfallen haben und wie sich dadurch sein Leben einschneidend verändert hat. Trotz des großen zeitlichen Abstands vermittelt er den Eindruck, nach wie vor unter Schock zu stehen, als könnte er immer noch nicht fassen, dass seine Eltern, die er »die unwahrscheinlichsten Bankräuber der Welt« nennt, die Tat wirklich begangen haben. Fast zwanghaft versucht er im Nachhinein, die Zeichen an der Wand zu deuten, bedient sich ausgiebig der Technik des Foreshadowing und stellt immer wieder seinen jetzigen und seinen damaligen Wissensstand nebeneinander.

In dem Versuch, zu verstehen, wie es zu dem Verbrechen kam, beschreibt Dell die Herkunft seiner Eltern und das Leben seiner Familie in jenem Sommer 1960 minutiös. Relativ schnell kommt er zu dem Schluss, dass schon die Ehe seiner Eltern ein Fehler war. Sein Vater, Bev Parsons, war im Zweiten Weltkrieg bei der Luftwaffe und versucht, sich nach seiner unehrenhaften Entlassung zuerst als Autoverkäufer und dann durch illegale Geschäfte mit Rinderhälften, die er von Indianern kauft, über Wasser zu halten. Seine Mutter, Geneva, eine Tochter jüdischer Einwanderer und Lehrerin, hat Bev hauptsächlich geheiratet, weil sie schwanger war. Dell ist überzeugt, dass sie relativ schnell erkannt hat, dass die Heirat ein Fehler war, und ihr lediglich die Entschlusskraft fehlte, sich von ihrem Mann zu trennen.

Da sein Vater als Soldat ständig von einem Luftwaffenstützpunkt zum nächsten versetzt wurde, lernen Dell und seiner Zwillingsschwester Berner, sich nie wirklich auf die Leute an einem Ort einzulassen; auch nicht in dem kleinen Städtchen Great Falls in Montana, wo sie zum Zeitpunkt des Banküberfalls bereits vier Jahre leben. Trotz seiner fast an Schuld und Sühne erinnernden, quälenden Analyse des Lebens seiner Eltern sowie der Tage und Stunden vor dem Überfall muss Dell schließlich feststellen: »Wir fanden das Leben bei uns zu Hause normal.« Das bringt ihn zu der Überzeugung, dass das Normale und das Schreckliche unheimlich nahe beieinander liegen und der Alltag stets ohne Vorwarnung in Verbrechen umschlagen kann.

In dieser Ansicht wird er in seinem weiteren Leben bestätigt. Vor ihrer Verhaftung arrangiert seine Mutter, dass ihre Freundin Mildred die Kinder bei Mildreds Bruder in Kanada unterbringt, damit sie nicht in einem staatlichen Jugendheim enden. Seine Zwillingsschwester Berner entzieht sich dem Plan der Mutter, indem sie wegläuft. Mildred gibt Dell den Rat: »Schließ nie etwas aus und sorg dafür, dass du auf das, was du hast, immer problemlos verzichten kannst.« Dell muss auf sehr schmerzhafte Weise lernen, dass sich die Bedeutung und Entwicklung der Dinge, die man vor sich sieht, meistens keine Rücksicht auf die eigenen Wünsche nehmen.

Ihr Bruder, Arthur Remlinger, betreibt in Saskatchewan ein Hotel hauptsächlich für Touristen, die zum Gänsejagen kommen. Hier muss Dell die schmerzhafte Entdeckung verkraften, dass Arthur vor einem Verbrechen in seiner Vergangenheit nach Kanada geflohen ist, das ihn ausgerechnet kurz nach Dells Ankunft einholt und Dell wieder einmal zu einem unfreiwilligen Komplizen und Zeugen macht.

Man kann verstehen, dass Dell, traumatisiert wie er ist, krampfhaft versucht, einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen in den USA um seine Eltern und denen in Kanada um Arthur Remlinger herzustellen. Als Plot eines Romans wirken die beiden Teile eher beliebig verknüpft: Dells Vorgeschichte spielt in den Ereignissen in Kanada kaum eine Rolle. Jeder andere Junge in einem ähnlichen Alter hätte sie wahrscheinlich ähnlich erlebt.

Im dritten Teil schließlich berichtet Dell als kurz vor der Pensionierung stehender Lehrer von dem letzten Wiedersehen mit seiner Schwester. Beide haben immer noch den Eindruck, dass ihr Leben eigentlich hätte anders verlaufen müssen – ganz untypisch amerikanisch fühlen beide sich ihrer Vergangenheit und ihren Umständen ausgeliefert und üben sich am Ende auf recht erfolglose Art in Akzeptanz.

Richard Ford: Kanada | Deutsch von Frank Heibert
Hanser Berlin 2012 | 464 Seiten | Jetzt bestellen