1976 zieht der Engländer David Bowie, noch keine 30 Jahre alt, aber bereits mehrfacher Erneuerer der Musikgeschichte, in die Hauptstraße 155 in Berlin-Schöneberg, um seine in Los Angeles ausgeuferte Sucht nach schädlichen Substanzen in den Griff zu bekommen – und um eine am Krautrock geschulte neue Musik zu entwickeln. Daraus gestaltet Comiczeichner Reinhard Kleist in »Low – David Bowie’s Berlin Years« mit grobem Strich und reduzierter Farbe ein umfangreiches biografisches Schlaglicht auf den Künstler, die Musikszene und die Welt Ende der Siebziger.

In der Gestaltung seiner Geschichte arbeitet Kleist mit allerlei Assoziationen, die das Oeuvre von David Bowie quasi vorgibt: »Space Oddity«, »Starman«, »The Man Who Fell To Earth«, »Blackstar« – das Kosmische ist von Bowies erstem bis zu seinem letzten Ton immer wieder mal greifbar, und der Zeichner und Autor greift zu. Dabei haben all diese Assoziationen mit Bowies Berlin-Zeit gar nichts zu tun, dort entstanden ganz andere Songs, aber immerhin lässt sich mit dem Krautrock, dem Bowie nacheifert, eine Verwandtschaft zur Kosmischen Musik ausmachen, die mit Edgar Froese von Tangerine Dream auch eine inhaltliche Verbindung findet. Der Blick zu »2001: Odyssee im Weltraum« liegt da ebenfalls nahe, aber dazu später. Zudem lässt Kleist fortwährend einen Astronauten in ausgewählten Szenen erscheinen.

Aus dem tiefschwarzen All heraus beginnt Kleist Bowies Reise, die in der riesigen leeren Wohnung in Schöneberg aufsetzt. Kleists Strich ist bei aller Opulenz nicht unbedingt auf Filigranität und Exaktheit ausgelegt, oft zeichnet er mit dickem Pinsel und reduzierter Kontur. Bisweilen hat dies zur Folge, dass man manche Figuren nicht gleich erkennt, obwohl sie quasi prominent und manchem Lesenden somit vertraut sein sollten. Aber daran gewöhnt man sich, denn man erfasst nicht nur intuitiv, dass Kleist an ganz Anderem gelegen ist – nämlich der Geschichte, die weit mehr umfasst als lediglich ein musikalisches Genie in einem Tonstudio bei der Berliner Mauer während des Kalten Krieges.

Deshalb erzählt Kleist die Historie auch nicht chronologisch-faktisch, sondern mit Zeitsprüngen und Nebenarmen, die Bowies romantische und familiäre Emotionalität ebenso berücksichtigen wie seine Sucht, seine Kreativität, seine Freundschaft zu Iggy Pop und seine Eskapaden. Man kann Bowie in Berlin nämlich nur dann verstehen, wenn man Bowie in L.A. und Bowie in England kennt, und diese Aspekte schließt Kleist in seine Erzählung ein, also von wegen, nur die Berlin-Jahre. Einen Nachteil gibt es: Als wissbegieriger Fan muss man einiges Vorwissen mitbringen, wenn man das Buch als mehr als nur eine Geschichte über einen geläuterten Rockstar auffassen möchte, sondern auch als eine Art Wikipedia-Eintrag, in dem Namen und Ereignisse eine exaktere Rolle spielen: Viele Protagonisten erscheinen hier lediglich mit Vornamen und Rolle, ohne Google entgehen selbst Fans einige Aha-Momente, von denen das Buch zahlreiche bietet.

Beispiele: Zwei Tonys treten hier auf, einer mit einem Rechtsstreit in der Rückblende und einer aktuell im Studio, das verwirrt schon sehr; der erste war Ex-Manager Defries, der zweite Produzent Visconti. Edgar mit seiner Lockenpracht lässt sich leicht als Froese dechiffrieren, der für wenige Stunden in die Hansa-Studios eingeflogene Fripp ist der Robert von King Crimson, der zu »›Heroes‹« wesentliche Gitarrenideen beisteuert. Angie ist Bowies Exfrau, mit der er sich um mehr als nur das Sorgerecht für Sohn Zowie zofft, der übrigens angeblich bei Bowie in Berlin lebt, aber nie zu sehen ist. Bowies Berliner Geliebter Romy Haag haftet der Ruf an, ein Mann zu sein, was sie offenbar tatsächlich selbst so kolportierte. Bowies Managerin Coco Schwab spielt noch wichtige Rollen, Bowies Mitbewohner Iggy Pop kennt man ohnehin bestens. Wichtiges Personal aus der Realität also, das man zum vollen Verständnis des Buches kennen sollte.

Doch auch die erzählte Geschichte bleibt bei allen Nebenschauplätzen in manchen Details fragmentarisch, als Lesender ist man selbst gefordert, die Lücken aus den Zusammenhängen heraus zu füllen, was aber keine Schwierigkeit darstellt. Anders ist es mit den Zeitsprüngen, für die genauere Kenntnisse der Biografie vonnöten sind, um sie leicht erkennen zu können. Eine Verständnishilfe installiert Kleist: Ein an Bowie gerichteter Du-Erzähler begleitet den Musiker auf dieser Reise, der zudem auch den Lesenden wertvolle Informationen und Kontexte vermittelt – und der sich, Spoiler!, als Bowies Alter Ego aus dem Jenseits entpuppt, schließlich wissen Kleist und die Lesenden – anders als Bowie in Berlin –, dass jener zum Zeitpunkt dieser Niederschrift längst verstorben sein würde.

In Berlin lebt Bowie nur drei Jahre lang, die Alben »Low«, »›Heroes‹« und das hier nicht einmal mehr erwähnte »Lodger« gelten als die Berlin-Trilogie. Im Grunde stellt »Station To Station« aus dem Jahr 1976 bereits die Weichen für den Berlin-Sound, obwohl es noch in Los Angeles entstand; schließlich landeten Auszüge dieses Albums auch auf dem 1981 erschienen Soundtack zum Film »Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«, der sich eigentlich maßgeblich bei den Berlin-Alben bedient, aber die »Station To Station«-Songs im Sound der drei Berlin-Alben aufgehen lässt. Von denen »Lodger« ja 1979 in Montreux entstand, aber immer noch mit Brian Eno, der somit die eigentliche Klammer dieser Trilogie darstellt. Aber das ist nur Nerdwissen am Rande.

Was Kleist hier alles anreißt: Bowies psychisch kranker Bruder und seine Mutter in England, die in den USA gekeimte Inspiration für Berlin als rettenden Zufluchtsort, Musikerempfehlungen wie Asmus Tietchens, Bowies merkwürdige Eskapaden wie den Hitlergruß im Gestapo-Mantel in London oder seine manische Begeisterung für Aleister Crowley in den USA, Bowies Inkarnationen wie Ziggy Stardust, Halloween Jack, Thin White Duke oder Thomas Jerome Newton, Bowies Unterstützung für eine von Nazis bedrohte Berliner Schwulenbar, am Beispiel Marc Bolans, dass fehlende künstlerische Innovation Stillstand bedeutet, und vieles mehr. Rein lexikalisch, das ist ein großer Pluspunkt, bleibt Kleist nicht: Er stellt Bowies Werdegang empathisch dar, sogar gelegentlich mit Humor, insbesondere in den Dialogen mit Iggy Pop.

Zuletzt erlaubt sich Kleist einen Griff nach außerhalb der Schublade: Im Kinofilm »2001: Odyssee im Weltraum« (»2001: A Space Odyssey«) heißt die Hauptfigur David Bowman; der Film und das Buch erschienen 1968, Bowies Song »Space Oddity« ein Jahr später. Für Bowies Zukunft nach Berlin borgt sich Kleist die Filmszene aus, als Bowman nach dem Flug durch den Monolithen auf dem Jupiter den weißen Raum betritt und sein älteres Ich auf dem Bett liegen sieht. Hier übernimmt Kleist Bowies Darstellung aus dem Video zu »Lazarus«, das kurz vor dessen Tod erschien und auf dem finalen Studioalbum »Blackstar« enthalten ist. Der schwarze Stern am Firmament, aus dem Bowie am Anfang des Buches auf die Erde fiel.

Reinhard Kleist: Low – David Bowie‘s Berlin Years | Deutsch
Carlsen 2024 | 180 Seiten | Jetzt bestellen