Raymond Federman: Der Pelz meiner Tante Rachel»…ich bin ein Literatur-Fußgänger, ich gehe sachte in den Worten spazieren und wenn mir manchmal die Galle hochkommt wegen der dummen Ärsche dann heißt das nicht dass ich keine Hoffnung für die Menschheit habe, auch wenn heutzutage die Menschheit nicht bei guter Gesundheit ist…«

Er redet und redet, ohne Punkt und Komma. Distanzlos drängt sich der Protagonist in Raymond Federmans »Der Pelz meiner Tante Rachel« dem Leser auf, es gibt kein Entrinnen. Der improvisierte Roman des 1928 geborenen jüdischen Schriftstellers ist einer der sechzehn Titel, mit dem sich der wiedererweckte Verlag Faber & Faber im vergangenen Herbst zurückgemeldet hat. Die Wiederauflage soll an den zehnten Todestag des 2009 verstorbenen bedeutenden Autors erinnern, der den amerikanischen Roman durch zahlreiche Experimente bereichert hat.

Der Erzähler duzt sein Gegenüber, vertraut ihm intimste Details an und macht vor Kalauern und Obszönitäten nicht halt. Doch so schnell wie er des Lesers Vertrauen gewinnt, stößt er ihn mürrisch wieder zurück. Erzählt wird das Leben eines mittellosen Künstlers, der an einem Roman mit dem Arbeitstitel »Zeit der Nudeln« schreibt.

Stück für Stück fügt sich die Biografie des Helden zusammen, ununterbrochen monologisiert an den Pariser Bistrotischen. Dabei bedient sich der Erzähler der »Kunst des Schwindelns«, meidet Tiefgründigkeit und lenkt immer wieder von einem begonnenen Thema ab.

»Sehen sie, was ich schreibe ist schließlich nichts als ein Gemisch aus Erinnerungen und Lügen, aber natürlich haben alle Lügen in sich ein Körnchen Wahrheit, man muss ihnen nur zuhören können. Das Leben hat, wie ein alter Mantel, immer ein Futter aus Fiktion das ein wenig zerfetzt ist.«

Nie erfährt man etwas vollständig. Als wolle der Protagonist beim Zuhörer noch einen Kaffee mehr oder eine weitere Gauloises schnorren. Oder will er seinen Zuhörer vor einem Abgrund bewahren, wenn er meint, dass ein Text kein Text sei, »wenn er sich nicht auf den ersten Blick verhüllt?« Was soll man dem Erzähler glauben, der »zufälligerweise« ebenfalls Raymond heißt? Schließlich gesteht er im selben Atemzug, dass seine herzzerreißende Geschichte über den wiedergefundenen Schulfreund »an Ort und Stelle erfunden« sei.

Spätestens wenn man zum wiederholten Mal liest, dass die Familie des Erzählers »auf Lampenschirme reduziert« wurde, versiegt die oberflächliche Heiterkeit. Das pure Entsetzen ergreift den Leser, nicht nur über die Wohnsituation in Kindertagen. Ekel empfindet man vor dem Eimer, der als Toilette herhalten musste, an einer denkbar ungünstigen Stelle stand und von unserem Helden regelmäßig ausgeleert werden musste. Man bewundert das Durchhaltevermögen, mit dem er die Erniedrigungen auf einem französischen Bauernhof über sich ergehen ließ. Hier wird deutlich, dass ein Holocaust-Überlebender nicht vergessen kann und wie sehr die Erinnerungen schmerzen. So sehr, dass sie wegen der doppelten Absätze als Bruchstücke daherkommen. Verschüttete Trümmer der »Dinge, die mir während des Krieges passiert sind.«

Als junger Mann wandert Raymond nach Amerika aus. Von seinen Anfangsjahren in der Autofabrik am Fließband und als Saxofonist in den Jazzlokalen Detroits ist in regelmäßigen Abständen zu lesen. Aus der Sprache des Jazz leitet sich das Wort doodlen ab, was so viel wie einspielen oder improvisieren bedeutet. Genau so hat der Leipziger Künstler Hartwig Ebersbach das Buch illustriert. Die »hingekritzelten« Zeichnungen passen sich Federmans Erzählweise wunderbar an und wirken abstrakt. Ob sie eher expressionistisch oder doch lyrisch gemeint sind, liegt im Sinne des Betrachters. Nie lassen sich die Striche des ältesten Vertreters der ostdeutschen gestischen Malerei ganz entschlüsseln.

Zu seiner Tante Rachel entwickelt Raymond eine besondere Beziehung, als sie nach vielen Jahren nach Frankreich zurückkehrt. Auch sie ist dem Holocaust entkommen. Ihre Rückkehr aus dem Senegal entwickelt sich zum Höhepunkt im Roman. Die exotisch anmutende Rachel wird als reizend beschrieben. Fest umarmt sie jedoch nur den heruntergekommenen Sohn der verlorenen Schwester. Der Erzähler genießt diesen Moment und sehnt sich immer wieder nach diesem Gefühl, »das ich spürte als ich da in ihrem Pelz verschwand, siehst du weil sich ihr Mantel öffnete als sie ihre Arme um mich geschlungen hat um mich zu umarmen und ich habe mich auf einmal in ihrem Pelz wiedergefunden, wenn man das so sagen kann.«

Zum Schluss ist Federman sein eigener Zuhörer. Seine Geschichten rechnen mit der Realität des Holocaust im besetzten Frankreich ab und sind alles, nur nicht »umsonst…«

Raymond Federman: Der Pelz meiner Tante Rachel | Deutsch von Thomas Hartl
Mit 30 Illustrationen von Hartwig Ebersbach
Faber & Faber 2019 | 248 Seiten | Jetzt bestellen