Raul Zelik: Wir Untoten des Kapitals»Beim Zombie geht es um Kontrollverlust und absolute Fremdbestimmung«, schreibt Raul Zelik, »Die Untoten faszinieren uns, weil uns das Gefühl, maschinenhaft fremdgesteuert zu sein, allzu vertraut ist.« Der Zombie dient Zelik also als generelle Metapher für das entfremdete Dasein des Menschen. Aber er untersucht auch die spezifischen Ausprägungen dieser Horror-Figur: Was unterscheidet die Untoten aus George A. Romeros »Nacht der lebenden Toten« von 1968 von denen aus seinem zehn Jahre später entstandenen Film »Zombie«? Warum rekurriert Wes Craven 1988 in »The Sperpent and the Rainbow« auf den haitianischen Ursprungsmythos? Und warum sind Zack Snyders Remake-Zombies aus dem Jahr 2004 schneller als die Originale von 1978? Auch die Weißen Wanderer vergisst Zelik natürlich nicht: »So wie in Game of Thrones der Schrecken der umherstreifenden Eis-Zombies dafür sorgt, dass sich die Königreiche gegen die äußere Bedrohung vereinen, dient die politische Erzählung ›der anderen‹ durch Rechtsextreme wie Trump als ideologischer Kitt, mit dem die auseinanderdriftenden Marktgesellschaften zusammengehalten werden sollen. Die Konstruktion eines Außen verschleiert die sozialen und ökonomischen Widersprüche im Inneren.«

Womit wir beim eigentlichen Thema des Buches wären. Raul Zelik, der nicht nicht nur Schriftsteller und Übersetzer ist, sondern auch Politikwissenschaftler, untersucht natürlich nicht den Zombie-Mythos, sondern unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Das ist allein schon deshalb interessant, weil der Untergang der Staaten des sogenannten »realexistierenden Sozialismus« nunmehr dreißig Jahre her ist. Zeit also, Bilanz zu ziehen! Zumal in der Zwischenzeit auch eine ganze Menge passiert ist. Letztlich nähert Zelik sich auf diese Weise der Frage, wie eine bessere Gesellschaftsordnung aussehen und wie wir dorthin kommen könnten.

Seine Überlegungen lesen sich nicht nur aufgrund der Zombiefizierung des Essays so anregend, sondern auch, weil sich Zelik nicht mit unnötigen Details aufhält. Wer sich zum Beispiel intensiver mit der Geschichte des Sozialismus beschäftigen möchte, könnte ergänzend auf Hannes Giessler Furlans Abhandlung »Verein freier Menschen? Idee und Realität kommunistischer Ökonomie« zurückgreifen. Zelik interessiert mehr das große Ganze, nicht jedoch ohne gänzlich auf erhellende Exkurse zu verzichten. Am Beispiel Venezuela, das er aus eigener Anschauung kennt, beschreibt er den Aufstieg und Fall der dortigen Revolution.

Im vierten und längsten Kapitel des Buches widmet sich Zelik der Formulierung eines neuen »Sozialismusbegriffes«. Er resümmiert in diesem Zusammenhang noch einmal die inneren Gesetze, denen das kapitalistische Wirtschaftssystem unterliegt. Dazu gehören der Zwang zum Wirtschaftswachsum, zur Marktkonkurrenz und zur Ausbeutung der begrenzten natürlichen Ressourcen sowie die daraus resultierenden ökonomischen, ökologischen und sozialen Krisen. Einfache Lösungen für diese komplexen Probleme gibt es für ihn nicht:

Ausgangspunkt eines grünen Sozialismus muss also die Erkenntnis sein, dass gesellschaftliche und Naturverhältnisse materiell miteinander verschränkt sind. (…) Auf der einen Seite herrscht bei den Grünen und vielen Verbänden die Ansicht vor, ein ökologischer Umbau des Kapitalismus sei möglich und werde sogar neue Wachstumspotenziale freisetzen. (…) Auf der anderen Seite formulieren große Teile der Klimabewegung, ohne sich sichtbar von den Grünen abzusetzen, eine grundsätzliche Wachstumskritik, die das herrschende ökonomische Paradigma radikal infrage stellt.

Raul Zelik geht jedoch noch einen Schritt weiter. Er fragt nicht nur, ob die Wirtschaft wirklich immer weiter wachsen muss (und wenn ja wie?), sondern auch, wie ein »Gutes Leben« jenseits des »konsumistischen Wohlstandsbegriff(es)« aussehen kann. Dies bedürfe nämlich einer »Wiederaneignung des Sozialen und der Stärkung des Öffentlichen«. Dabei geht Zelik angenehm undogmatisch vor und vermeidet den Eindruck, den unumstößlichen wirtschaftlichen Masterplan in der Tasche zu haben:

Charakteristisch für ein linkes ökonomisches Projekt ist nicht, dass es auf »Planung« setzt, sondern dass es Herrschaftsverhältnisse schleifen und die gemeinsame demokratische Gestaltung des Lebens ermöglichen will.

Dies setzt jedoch voraus, dass es überhaupt ein emanzipatorisches Projekt gibt, dass diese Selbstermächtigung ermöglicht. In diesem Zusammenhang diskutiert Zelik die Vor- und Nachteile liberaler und (räte)sozialistischer Modelle. Es spricht für seine Vorurteilsfreiheit, dass sich Zelik nicht vorschnell auf die eine oder andere Seite schlägt, sondern sich tatsächlich der zentralen Bedeutung der »Machtfrage« bewusst ist, weshalb er auch unkonventionelle Ideen diskutiert:

Überträgt man Entscheidungen hingegen an Delegierte, übernehmen auch diese schnell die Funktion von Spezialist*innen. Dem ließe sich vielleicht durch die Anwendung des aleatorischen Prinzips, also die Auswahl von Delegierten per Los entgegenwirken.

Zelik bezieht sich natürlich stark auf den italienischen Philosophen und Politiker Antonio Gramsci. »Im Zentrum seines politischen Denkens«, schreibt er, »stand das Konzept der ›Hegemonie‹, also die Fähigkeit zur ›intellektuellen und moralischen Führung‹ einer bestimmten Klasse oder Gruppe.« Er schließt daraus, dass das »entscheidende Kriterium … nicht die Radikalität der ›Differenz‹ ist, sondern die Fähigkeit, Menschen für solidarische Ziele zu mobilisieren.«

Ganz in diesem Sinne geht Zelik nicht davon aus, dass es den einen richtigen Weg zu einer befreiten Gesellschaft gibt, sondern dass die Schaffung selbstbestimmter Freiräume, konkrete Reformpolitik und die Perspektive eines radikalen Bruchs einander ergänzen. Zelik liefert mit seinem Essay wichtige Denkanstöße, weshalb diesem Buch möglichst viele Leserinnen und Leser zu wünschen sind – egal wie sie sich engagieren.

Raul Zelik: Wir Untoten des Kapitals. Über politische Monster und einen grünen Sozialismus
Deutsch | Suhrkamp 2020 | 328 Seiten | Jetzt bestellen