Es gab Zeiten, da waren Filmbücher in jeder gut sortierten Buchhandlung nicht wegzudenken. Schauspieler, Regisseure und auch Filmgenres wurden analysiert, katalogisiert und mehr oder weniger abgefeiert. Für den Filmfan waren das goldene Zeiten. Nur schade, dass die meisten dieser Bücher nichts getaugt haben, vor allem wenn sie aus Deutschland kamen. Aber man hatte ja sonst nichts. Zumindest waren die vielen Fotos nicht uninteressant.
Der durchschnittliche Filmbuch-Verfasser von einst hatte zwar viele Filme gesehen, aber ansonsten wenig Ahnung. Regisseure wurden grundsätzlich als gottgleiche Lichtgestalten gesehen, denn die meisten Cineasten waren Verfechter der französischen »Auteur Theory«, die besagt, dass nur der Regisseur der eigentliche Autor eines Films sei. Er ist es, der im Entstehungsprozess den Stoff nach eigenem Gusto formt und so quasi in seinem Sinne umschreibt. Das mag auf einige Größen wie Truffaut oder Visconti, die sich eine große Autonomie erarbeiten konnten, sicher zutreffen. Nur wurde dieses Modell von ihnen auch auf weniger glückliche Kollegen übertragen.
Nehmen wir zum Beispiel Fritz Lang, den legendären Regisseur von »Metropolis« und »M«. Nach seiner Glanzzeit in Deutschland war er nur noch ein Rädchen in der Filmfabrik Hollywoods. Zwar inszenierte er in schöner Regelmäßigkeit auch weiterhin gute Filme, aber das letzte Wort hatten plötzlich andere. In einem Interview, dass er Peter Bogdanovich gab, sprach er offen darüber, wie er sich nur schwer in Hollywoods Studiosystem behaupten konnte, nur um später frustriert nach Deutschland zurückzukehren. Langs Resümee: »Wenn man bei einem amerikanischen Studio unter Vertrag steht, hat man nirgendwo vollständig freie Hand.«
Wer der eigentliche Autor eines Films ist, kann später nur schwer bestimmt werden. Damals wie heute gibt es oft viele Drehbuchschreiber, die an einem Filmskript gearbeitet haben. Wer mit einem großen Star zusammenarbeitet, hat sogar noch weniger Möglichkeiten, sich als »Auteur« zu profilieren, denn unbequeme Regisseure werden sofort rigoros ersetzt. Ganz oft mussten Filmschaffende des Geldes wegen an Stoffen arbeiten, mit denen sie eigentlich nichts am Hut hatten. Darauf angesprochen sagte Lang: »Wissen Sie, man unterschreibt einen Vertrag, das ist alles.«
Statt sich mit den vielen Glücks- und Unglücksfällen auseinanderzusetzen, die beim Herstellungsprozess eines Filmes passieren, machten es sich die meisten Autoren einfach. Teils aus romantischer Verklärung, teils weil sie nicht wirklich wussten, was sich hinter den Kulissen zugetragen hat. Statt zu recherchieren, ergingen sie sich in seitenlangen Interpretationsversuchen. Was mag sich der Künstler dabei gedacht haben?
»Jibber-jabber«, würde Quentin Tarantino dazu sagen. Oder vielleicht auch: »Gabfest.« Für Pseudo-Cineasten, die zu faul sind, ihre Hausaufgaben zu machen, hat er nicht das geringste Verständnis, erklärte er neulich. »Cinema Speculation« ist daher ein Buch, wie es sie leider nur ganz selten gibt: Voller Leidenschaft geschrieben, höchst informativ und vor allem außergewöhnlich sorgfältig recherchiert.
Wenn Tarantino sich mit einem Film auseinandersetzt, hat er nicht nur die Romanvorlage gelesen, sondern gleich mehrere Drehbuchentwürfe. Dazu schildert er die Entstehungsgeschichte des Projekts, die Schwierigkeiten beim Dreh, er zitiert aus zahllosen zeitgenössischen Filmkritiken und gibt zu guter Letzt seine ganz persönliche Einschätzung wieder. Kurz: Es ist eine solche Fülle an Informationen, die weniger vom Film besessene Leserinnen und Leser überrumpeln dürfte. Man spürt geradezu, wie groß der Drang ist, mit seinem Wissen zu brillieren. Nur zu gern verliert er sich dabei in Nebensächlichkeiten. Abschweifung, dein Name ist Quentin!
Klar, dass er im Rahmen seiner Recherche oftmals zum Hörer griff, um beispielsweise Altmeister »Marty« Scorsese höchstselbst zu befragen, was er sich bei einigen Details zu »Taxi Driver« gedacht hatte. Wenn das nicht ging, sprach er zumindest mit Hinterbliebenen, wie die erste Frau von Steve McQueen, die einen großen Anteil an dem Erfolg der Leinwandikone hatte.
Das Gros der Filme, die er in seinem Buch vorstellt, stammt aus den Siebzigerjahren, jener Epoche, die ihn nachhaltig geprägt hat und Hosenmatz QT letztendlich zu dem fleischgewordenen Filmlexikon machte, das er heute ist. Schon im Vorschulalter wurde er von Muttern und ihren wechselnden Lovern in Filme mitgenommen, die »normalen« Eltern schlaflose Nächte bereitet hätten. Nicht so Mama Tarantino, die Gewalt nur in den Nachrichten bedenklich fand. Für den blutrünstigen Knirps ein Glücksfall, denn so konnte er von Kindesbeinen an brutale Blaxploitation-Machwerke goutieren und fand auf diesem Wege schnell Gefallen an Mord und Totschlag. Auch wenn er kurz von einem ersten Besuch in einem Pornokino berichtet, haben blanke Brüste ihn offenbar nie so erregt, wie ein vom Kugelhagel durchsiebtes Hirn. Ein typischer amerikanischer Junge eben.
Viele der Filme in »Cinema Speculation« sind Klassiker. Neben den Steve McQueen-Vehikeln »Bullit« und »Getaway«, äußert sich Tarantino ausgiebig über Brian De Palmas Thriller »Schwestern des Bösen« und wenig bekannte Ausreißer wie »Daisy Miller« und »Paradise Alley«. Natürlich darf auch ein blutrünstiges Rachedrama nicht fehlen. »Der Mann mit der Stahlkralle« zählt zu den großen Favoriten des Filmverrückten. Nicht nur die Acuna Boys in »Kill Bill« hatten hier ihren Ursprung. Wann immer der Film damals gezeigt wurde, war Jung-Quentin zur Stelle und nahm dafür sogar stundenlange Busfahrten in Kauf.
»Cinema Speculation« ist ein wilder Ritt durch die nicht minder wilden Siebziger. Ganz nebenbei erfährt man viel Interessantes über Kritiker und ihre Bedeutung, den Rassismus in der Traumfabrik, die Lebenswege bekannter und unbekannter Filmgrößen und vor allem eine Menge über Tarantinos eigene, oft recht unorthodoxe Ansichten. Wer seinen Podcast »Video Archives« hört, wird dieses Buch lieben. Die englische Ausgabe enthält zusätzlich einen dreiseitigen Artikel über Bela Lugosi, der ursprünglich 1966, in dem Fanmagazin »Castle of Frankenstein« erschienen ist.
Für einen eingefleischten Filmfan wie mich, der bis auf eine Ausnahme alle der hier versammelten Filme mindestens einmal gesehen hat, war es ein cineastisches Festmahl, das leider viel zu schnell vorbei war. Der Durchschnittsleser dürfte bei all der Akribie eher die Stirn runzeln. Und wie erwartet, darf in diesem Buch auch das vom Meister gern strapazierte N-Wort nicht fehlen. Zumindest in der englischen Ausgabe. Tarantino weiß eben, was seine Fans von ihm erwarten.
Quentin Tarantino: Cinema Speculation | Deutsch von Stephan Kleiner
Kiepenheuer & Witsch 2022 | 400 Seiten | Jetzt bestellen