Peter Richter: 89/90

Es braucht ein wenig, um in »89/90« von Peter Richter hineinzufinden, aber wenn es dann erst seinen durch die historischen Ereignisse begründeten und mit Humor garnierten Sog entwickelt, mag man es nicht mehr aus der Hand legen – bis es allerdings, ebenfalls aus historischen Gründen, unbequem, erschütternd und ernüchternd wird. Richters namenlose Ich-Figur betrachtet die Wendezeit aus der Perspektive eines rationalen Jugendlichen aus dem Tal der Ahnungslosen, also Dresden, dessen Umfeld weder DDR-linientreu noch dem kapitalistischen Westen zugewandt ist. Bis die Nazis zu dominieren beginnen.

Der Einstieg gestaltet sich etwas ziellos, beinahe willkürlich: Man begleitet den Ich-Erzähler dabei, Jugendlicher zu sein, sich mit Freunden illegal nachts im Freibad zu treffen, Mädchen kennen zu lernen, Bande zu knüpfen, die politische und gesellschaftliche Gegenwart der DDR zu spiegeln. Da Richter scheinbar fragmentarisch erzählt und alle paar Zeilen einen Absatz kennzeichnet, erfordert es Durchhaltevermögen, um festzustellen, dass sehr wohl alles zusammenhängt und aufeinander Bezug nimmt, ebenso wie die Fachbegriffe, Abkürzungen und Umstände erklärenden Fußnoten, die der Autor einstreut. Die sind sicherlich nicht nur für Westgeborene relevant, sondern auch für einstige DDR-Bürger, die außerhalb Dresdens und damit in einem anderen Soziotop aufwuchsen. Nämlich einem, das Westfernsehen empfangen konnte, und somit, wie der Erzähler bemerkt, vom Kapitalismus sediert ist und erstrecht nicht gegen das Ost-Regime aufbegehrt – anders als die Leute im deshalb so genannten Tal der Ahnungslosen, weil West-TV dort nicht zu empfangen war. Man reagierte aus sich selbst heraus, aus eigener Wahrnehmung, aus eigenem Unrechtsbewusstsein auf die politischen Systeme, und entwickelte damit Positionen, die weder die DDR-Linie einhielten noch den Westen einforderten, sondern im Grunde eine verbesserte DDR. Man war insubordinant aus rationalen Gründen, man duldete Restriktionen, Überwachungen, Gängelungen nicht, weil man sie nicht für sinnvoll hielt, weil man sich auch ohne Bevormundung dazu bereit und in der Lage sah, eine vernunftgesteuerte Gesellschaft zu formen. So sammeln sich hier also Rebellen im Freibad, die Leben wollen, Freude an der Existenz haben, und die dem System mit Ironie und Humor begegnen.

Der nächste Aspekt, der das Verständnis beeinträchtigt, und das leider nahezu durchgehend, ist Richters Stil, die Namen der Protagonisten mit einem Initial abzukürzen, vermutlich, um den Eindruck der Authentizität dieser offenbar autobiografisch grundierten Berichte zu erwecken. Man verliert nur sehr schnell den Überblick, weil man zu Buchstaben weniger Bezug hat als zu ganzen Namen, weshalb auch Richter einigen Figuren noch Attribute anheftet, etwa Berufe, Spitznamen oder andere Eigenschaften, wie Lehrerin K., das Baby oder T., der Transvestit. Dennoch erschwert es das Dranbleiben und die Identifikation, obschon Richter sein Personal dafür verwendet, ausnehmend umfassend abzubilden, welche Sichtweisen die Menschen zu der Zeit hatten und in der Folge der Ereignisse entwickelten. Das überwältigt, wie ausführlich und differenziert Richter vorgeht; sobald der Gedanke aufkommt, eine Figur könnte auch einen anderen Weg einschlagen, als sie es im Buch unternimmt, geht Richter exakt auf diesen Aspekt ein, und wenn er ihn nur anreißt. Der Autor lässt sich nicht von den abwegigsten Ideen seiner Mitmenschen überraschen, alles ist möglich. Und so dachte man damals in der DDR ja auch.

Darin liegt der Kern des Buches, und alsbald auch der Sog der Geschichte: Dinge verändern sich, Michail Gorbatschow leitet im dominanten Russland die Perestroika ein, deren Wind der Veränderung auch die Satellitenstaaten durchweht. Parteichef Erich Honecker dankt ab, Egon Krenz wird dessen Nachfolger, Hans Modrow wird Regierungschef, Helmut Kohl spricht in Dresden, Hans-Dietrich Genscher in Prag, plötzlich sind Dinge möglich, die 40 Jahre lang unterdrückt waren, und sei es nur die freie Rede oder die flapsige Erwiderung an den ABV, die plötzlich ungesühnt bleibt. Diesen flapsigen, aber exakten Tonfall hat auch der Ich-Erzähler – ohne übrigens das lokale Idiom zu verschriftlichen –, die Kombination geht bestens auf, da er einerseits dem Wahnsinn in der Rückschau mit Ironie begegnet, andererseits auch dessen Schwere abzubilden weiß.

Während man inmitten der Geschichte mit dem Ich-Erzähler tanzt, entwickelt sich der vermeintlich goldene Tanzboden allmählich zum Vulkan: Nazis schießen als Folge der neu gewonnenen Freiheiten wie Pilze aus dem Boden und Richter erspart es einem nicht, den immensen Druck nachfühlbar zu vermitteln, der davon ausgeht, dass man nicht mal Dreadlocks haben oder zu den wenigen ausländischen Minderheiten der DDR gehören muss, nämlich Vietnamesen oder Mosambikaner, um in willkürlicher Lebensgefahr zu schweben. Diese Szenerie ist bedrückend, und Richter drückt sie den Lesenden aktiv ins Bewusstsein, in dem er ohne Unterlass Beispiele erzählt von Nazi-Terror, aber auch davon, wie Linke diesem begegnen, also von einer Welle der Gewalt, die mit einigem Glück lediglich im Krankenhaus endet. Ab hier, ab dem Jahreswechsel »89/90« mehr oder weniger, erfährt der Sog der Geschichte eine Bremse, tauscht der Autor Humor gegen Ernsthaftigkeit ein, man möchte das nicht lesen, man möchte verfolgen, wie alles gut ausgeht, wie die Guten gewinnen, und sei es nur Oberhand, aber nein, das gibt die Realität nicht her, bis heute nicht, das wissen wir. Die Geschichte verläuft damit wie eine Gauß-Kurve: langsam steigend, sich rauschhaft in die Höhe schwingend und dann abrupt in die Tiefe rauschend. Ja, der Ich-Erzähler lebt, schließlich berichtet er ja und ist somit wenigstens mit dem Leben davongekommen, aber schön ist das nicht mit all den keuleschwingenden Rechten. Da kommen einem die ganzen Kapitalismusgewinner, Zuhälter, Glücksspieler, Wendehälse, Drogendealer, Terroristen als das kleinere Übel vor. Es herrscht auch unter dem Buchpersonal große Orientierungslosigkeit bei kolportierten unendlichen Möglichkeiten; am Ende hat dann jeder aus dem Freibad eine andere Position eingenommen und einen anderen Lebenslauf eingeschlagen, und Richter zählt sie alle auf.

Im Grunde hat »89/90« nicht wirklich eine durchgehende Handlung, sondern bildet das Leben in der DDR im genannten Zeitraum ab, und das so umfassend, dass es positiv schwindelig macht. Dabei wirkt das Buch nicht überfrachtet, sondern Richter spreizt seine Finger wie beiläufig in alle Richtungen aus, er schüttelt sein ganzheitliches Wissen aus dem Ärmel. Da er seine Botschaften mit Humor transportiert, hat »89/90« angenehm etwas von Edutainment. Was man nicht alles lernt, was Richter nicht alles beherzigt, nicht nur Politik und Gesellschaft, darunter auch die Hausbesetzungen mit der Folge der neuen illegalen Cafés, die in der Äußeren Neustadt teilweise noch heute existieren, die Rolle der Kirche oder die Desillusionierung bei Feststellung, wer alles IM war, sondern auch Popkultur von Musik über Kino und Theater bis Fußball, und als Krönung lässt er die Ich-Person allem Erlebten mit einem selbstkritischen, analytischen Blick begegnen. Etwa, indem er feststellt, dass den West-Punkbands nach dem ersten Mal in Realität live sehen aufgrund ihrer tatsächlichen Unbegabtheit der heilsversprechende Schleier des unendlichen Kassette-Kopierens abhandenkam.

Bei der Perspektive, die der sympathische Erzähler einnimmt, fällt es dem Lesenden leicht, sich mit ihm zu identifizieren, und zwar auf eine verdutzende Weise leicht, sobald man eben nicht das Leben in Dresden lebte, sondern sagen wir in Braunschweig, und also seine Perspektive gar nicht haben konnte, aber die Vernunft gestaltet hier eine starke Bindung. Vieles geht einem außerdem nahe, weil man es sich nicht vorstellen kann, etwa wenn der Erzähler sagt, es habe niemand wissen können, was sie alles zum letzten Mal tun würden, oder dass sie in der Nacht zum 3. Oktober 1990 in einem anderen Land aufwachen, ohne sich fortbewegt zu haben. Was aus überheblicher Westsicht wie eine Erlösung wirkte, war für manche DDR-Bürger kaum mehr als eine Verschiebung der Belastungen. Dieses Verständnis fehlt von außen häufig, ein Buch wie »89/90« trägt viel zu solchem Verständnis bei. Empfohlen übrigens von KrautNick-Kolumnist Onkel Rosebud und seiner Freundin, die in Dresden-Neustadt leben.

Peter Richter: 89/90 | Deutsch
btb 2015 | 416 Seiten | Jetzt bestellen