Peter Høeg: Fräulein Smillas Gespür für SchneeEigentlich hat die Geschichte von Fräulein Smilla – inhaltlich, nicht räumlich – nur eine eher kurze Wegstrecke zurückzulegen, vom Tod eines kleinen Inuit-Jungen aus ihrem Kopenhagener Wohnhaus bis zur Lösung des Falles in Grönland, doch untermauert Peter Høeg diesen Weg ausnehmend ausführlich. Das macht der Däne zwar literarisch ausgesprochen ansprechend, inklusive einer zynischen Ich-Erzählerin, es erschwert die Lektüre jedoch immens. Man braucht ewig, um sich durch diesen Wälzer zu wälzen, so viel Spaß er auch bereitet. Das indes gelingt ihm auch nach 30 Jahren noch.

Man hat wirklich seine Freude an der Figur Smilla Jaspersen. Sie ist eine arbeitslose Wissenschaftlerin, Fachgebiete Geographie und Mathematik, und sie ist die in Grönland geborene Tochter eines Dänen und einer Inuk, die nach dem Tod der Mutter beim Vater in Kopenhagen aufwuchs und Schwierigkeiten hat, ihre polare Lebensweise der für sie deprimierenden europäischen anzupassen. Sie ist zwar lebensmüde, aber verbissen, lässt sich von nichts und niemandem beeindrucken und kontert Sexismen, Machismen und sogar lebensbedrohlichen Gegebenheiten mit einem stoischen Zynismus, über den man immer wieder in schallendes Gelächter ausbricht.

Auf diese Weise begegnet Smilla nun in Kopenhagen dem Tod von Jesaja, dem kleinen Sohn ihrer alkoholkranken Nachbarin, einer Inuk, der im Dunklen vom schneebedeckten Dach des Hauses stürzt. Ein Unfall, heißt es offiziell, doch Schneespurenleserin Smilla glaubt nicht daran und beginnt nachzubohren, auch mit der Hilfe eines weiteren Hausbewohners, des über lange Strecken lediglich als »der Mechaniker« bezeichneten wortkargen Mechanikers, mit dem sie im Verlauf zudem eine gleichzeitig nüchterne wie emotionale sexuelle Beziehung eingeht, so ist Smilla eben, das passt schon. Smilla stöbert in Archiven, stößt auf diverse fragwürdige Grönland-Expeditionen mit rätselhaften Todesfällen, befragt Beteiligte, knüpft Kontakte, gerät in Gefahr und schafft es sogar, an Bord der nächsten Expedition ins Polareis zu gelangen – wo sie inmitten eines immensen Handlungspersonals und, einmal mehr, unter Lebensgefahr auf die einleuchtenden Erklärungen zu Jesajas Ableben stößt.

Nun untermauert Høeg jede Erkenntnis Smillas mit herleitendem Wissen, mit Lebenserfahrung als Inuk zwischen Grönland und Kopenhagen, mit Details, mit Assoziationen, mit philosophischen Bewertungen, mit fachwissenschaftlichen Fakten, mit Wurmfortsätzen mithin, die nach Abschluss jeder Abschweifung Smillas Aha-Effekt zwar plausibilisieren, den Fortschritt der Handlung jedoch enorm ausbremsen. Es scheint, als mache man für jeden Millimeter auf Smillas Weg mehrere Lichtjahre Umwege, und sieht sich zudem mit der Problematik konfrontiert, die aufgeführten Bausteine im Kopf korrekt zusammenzusetzen, denn der Autor streut sie eher vor einem aus, als dass er einem ein fertiges Mosaik beschreibt; das ganze Bild zu bekommen, ist zwar möglich, aber anstrengend.

Høeg ist dabei gleichzeitig akkurat und vollständig, bis hin zu den akribisch aufgelisteten Kulissendetails für jeden Ort, an dem Smilla sich aufhält. Man möchte ihm für die Recherchearbeit auf die Schulter klopfen, insbesondere aus heutiger Sicht, wenn es selbst mit dem Internet schon ewig dauern würde, all diese Informationen zusammenzutragen. Was muss der Mann Anfang der Neunziger bloß unternommen haben, um diesen schmalen Thriller mit solchen Details auf stattliche 500 Seiten zu strecken!

Man kommt Smilla dadurch indes sehr nahe, sehr sehr nahe sogar. So sehr, dass man sich anerkennend wundert, wie ein zu diesem Zeitpunkt Mitte 30 Jahre alter weißer europäischer Mann es hinbekommt, sich so überzeugend in sowohl eine Frau als auch in eine Inuk hineinzuversetzen. Wofür er heute, in Zeiten der Diskussion um jedwede unrechtmäßige Aneignung, vermutlich eins bis zwei auf den Deckel bekommen hätte. Man kann sich jedoch angenehm in die von ihm gestaltete Figur fallen lassen und das Krimi-Abenteuer mit ihr durchleben.

Zum richtigen Thriller wird dieses Buch erst gegen Schluss, wenn man den Aberdutzenden Hinweisen sowie Haupt- und Nebenfiguren zum klärenden Finale folgt und es zur Begegnung auf Leben und Tod mit wechselnden Verbündeten kommt. Da plötzlich verlässt Høeg seinen poetisch-lexikalischen Stil und seinen Humor und nimmt das Tempo auf, das dem Rest des Buches, bis auf dezidierte Ausnahmen, fehlt – und das dadurch wiederum in einem verkrampft wirkenden Kontrast zu ebenjenem Rest steht. Die Lösung mit ihren Details ist nun tatsächlich in Smillas sämtlichen Erkenntnissen angelegt und fügt sich passend zusammen, sie öffnet sogar noch eine unerwartete wissenschaftliche Ebene. Man fühlt sich daher etwas wie aus einem Traum gerissen: Smilla ermittelt sich seitenlang assoziierend durch einen Mordfall an einem Kind, bis sie abrupt vor handfesten Tatsachen aus ihrem Fachgebiet steht. Bis auf den Schluss erscheint auch kaum eine Lebensgefahr für Smilla so richtig bedrohlich, auch ansatzweise versehrt kommt sie immer glimpflich davon und findet in diesem bisweilen unübersichtlichen Personal eben stets unerwartete Alliierte, die sie zunächst als Antipoden auffasste und die ihr unverhofft und manchmal willkürlich beim nächsten Trippelschritt auf dem Weg zur Erkenntnis helfen. Also: eher ein dramatisches Abenteuer mit hohem Wikipediaanteil als ein Thriller.

Interessant ist 30 Jahre später, wie Høeg die Politik Dänemarks im Umgang mit seiner Kolonie Grönlands kritisch darstellt; bis heute ist dies ein brisantes Thema im Lande. Ebenfalls aufschlussreich ist, sich in ein Kopenhagen von 1992 hineinzuversetzen, das es heute teilweise nicht mehr gibt: Die beschriebene dunkle Hafenromantik am Sydhavn etwa ist längst nicht mehr existent, so mit hässlichen architektonischen Unfällen, wie die Gegend inzwischen zugebaut ist.

Übrigens war Smilla zum Zeitpunkt der Drucklegung noch kein weiblicher Vorname. Im Buch trägt Fräulein Jaspersen eigentlich den grönländischen Namen Millaaraq, »Insektensummen«, lediglich vorn erweitert um ein S, das hier vom Dänischen »smil«, »lächeln«, abgeleitet und so von »Smillaaraq« auf »Smilla« verkürzt wird. In der Folge des Erfolgs des Romans und der Verfilmung entwickelte sich Smilla erst zum in Skandinavien nicht selten verwendeten Taufnamen.

So unterhaltsam das Buch auch ist, man ist froh, wenn man es endlich aus der Hand legen und sich einer Lektüre zuwenden darf, die mit einem kontinuierlichen Fluss einen größeren Sog ausübt. Vielleicht hätte sich Høeg an sein eigenes Zitat halten sollen: »„Enhver teoretisk forklaring er en reduktion af intuitionen.« – »Jede theoretische Erklärung ist eine Reduzierung der Intuition.«

Peter Høeg: Fräulein Smillas Gespür für Schnee | Deutsch von Monika Wesemann
Hanser 1994 | 480 Seiten | Jetzt bestellen