»Du denkst, du siehst’n Krimi, dabei passiert das gerade jetzt tatsächlich irgendwo in Bremen …«
Was da in Bremen, Gladbeck, Köln und Umgebung vor 25 Jahren geschah, ist ein Stück unrühmliche deutsche Zeitgeschichte, die der Journalist und Autor Peter Henning mit seinem im Sommer beim Aufbau Verlag erschienenen Roman »Ein deutscher Sommer« noch einmal lebendig werden lässt.
Henning zieht den Leser mit knapper, aber präziser Sprache ins komplexe Geschehen und hält ihn bis zuletzt gefangen. So erlebt der Leser noch einmal, wie zwei skrupellose Kriminelle am 16. August 1988 die Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck überfallen. Daraus entwickelt sich die zweifelsohne spektakulärste Geiselnahme der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Insgesamt vier Jahre recherchierte der in Hanau lebende Schriftsteller für sein auf einer »Geschichte, die das Leben schreibt« beruhendes Werk, befragte Zeitzeugen – unter ihnen den ehemaligen, inzwischen verstorbenen Dortmunder SEK-Beamten Rainer Kesting.
Der Leser wird mit insgesamt acht Erzählperspektiven konfrontiert. Die um die Wirklichkeit konstruierten Sequenzen sind auffallend kurz gehalten. Das gibt der Story Tempo, sorgt beim Leser jedoch auch für eine gewisse Unsicherheit. Der Seelenzustand der in das Verbrechen verwickelten Personen lässt sich dennoch nur erahnen.
Einem Puzzle gleich gewinnt man erst nach und nach Einblick in das Leben des Polizisten Rolf Kirchner (Einsatzleiter des Dortmunder SEK), der Journalisten Thomas Bertram und Peter Ahrens, der Kitschroman-Schreiberin Brigitte, der Taxi-Fahrerin Chris, dem Schüler Marc Steiner und des Busfahrers Adam. Spannend gestaltet sich die Entwicklung dieser Protagonisten, auch wegen der immer wieder eingestreuten Original-Pressemeldungen.
Wer sich an diese (im doppelten Sinne) heißen Sommertage erinnert, besinnt sich sicher der sensationslüsternen Journalisten, die den fliehenden Verbrechern eine zweifelhafte Plattform boten, sie interviewten, während die Geiseln in Lebensgefahr schwebten und das Töten vor laufenden Kameras filmten. Vorreiter für diesen journalistischen Fettnapf die Schlagzeile der BILD-Zeitung:
»Geiselgangster kauften Buletten und drohten: Wir knallen die Geiseln ab …«
»Der Traum aller Journalisten ist wahr geworden. Die Gangster befinden sich mit den Geiseln hundert Meter von hier entfernt. Ich habe den Eindruck, dass der Polizei alles egal ist. Jeder kann hier tun, was er will …«
Henning prangert die Gewissenlosigkeit der Journaille ebenso an wie die Ohnmacht der Polizei. Auch wenn er hier und da nicht ganz ohne Klischees auskommt, zeichnet er ein realistisches Bild des Geschehens. Betrachtet man die Medienlandschaft heute, findet man leider die Fortsetzung der damaligen Gebaren in DSDS, Big Brother, Frauentausch und anderen voyeuristischen Formaten.
Lichtblick des Romans: die Entwicklung des RTL-Journalisten Thomas Bertram, der am Ende seinen Job hinwirft, und die bis dahin in sich gekehrte und zurückgezogen lebende Schriftstellerin Brigitte, die nach dem gewaltsamen Tod ihres Lebensgefährten bei einem Auslandseinsatz in Nahost endlich wieder zurück ins Leben findet.
Das Buch lebt im wahrsten Sinne des Wortes, auch dank der einzigartigen Sprache und seiner originellen Konstruktion, als Erinnerung wie vor allem als Mahnung.
Peter Henning: Ein deutscher Sommer | Deutsch
Aufbau Verlag 2013 | 608 Seiten | Jetzt bestellen