Halms Welt blieb an einem Montag stehen. Kurz nach elf Uhr morgens. An einem Tag wie jeder andere. Später wird er sagen: »Ich habe es gewusst! Nein, nicht gewusst, aber geahnt. Schon beim Aufstehen kurz nach Sieben habe ich so ein flaues Gefühl gehabt! Ein dumpfes, undefinierbares Rumoren im Magen, das sich mit der Zeit in leichte Übelkeit gesteigert hat. Bis ich schließlich gegen halb neun glaubte, mich übergeben zu müssen, ins Bad lief, den Deckel der Toilette hochklappte und würgte…«

Lennart Halm ist die Hauptfigur des 2020 im Transit Buchverlag erschienenen Romans von Peter Henning. Halm arbeitet in Köln als Dozent für kreatives Schreiben. Seine Zwillingsschwester Luise kommt durch einen islamistischen Terroranschlag in Barcelona ums Leben. Lennart Halm fliegt sofort in die katalonische Hauptstadt, um herauszufinden, was wirklich geschehen ist, den Nachlass seiner Schwester zu regeln und ihre Wege nachzuvollziehen. Dabei wird er immer wieder von der Vergangenheit eingeholt. Halm reflektiert seine Beziehungen, seine Liebe und das Verhältnis zu seiner Schwester.

Wasserfarben gleich erinnert Peter Henning die Kindheitsszenen der Zwillinge. Mal tiefer, sich ganz der Situation hingebend. Ein anderes Mal sind es nur kleine Abrisse oder blasse Skizzen, die der Leser wahrnimmt. Dennoch spürt man die Intimität, die nur unter Zwillingen möglich scheint. Rückblenden lassen Schlüsse auf die Familienatmosphäre mit unterwürfiger Mutter und patriarchischem Vater zu.

Luise war stets die Stärkere, Widerspenstige und lehnte sich bereits als Heranwachsende gegen Autoritäten auf. Sie riss mit sechzehn von zu Hause aus, wurde früh Mutter, heiratete und stieg ebenso früh aus der Gesellschaft aus. Irgendwann verblassen auch die innigsten Kindheitsschwüre. Luise bricht mit der für sie unwirklichen Welt und beginnt ein für sie wahres Leben in Spanien.

Die Spannung der Geschichte liegt zwischen dem schmerzlichen Prozess der Entfremdung des Geschwisterpaares, ihrer Gegensätzlichkeit und dem Trauma, das Halm durch den Verlust seiner Schwester unter den dramatischen Umständen erleidet. Der Leser ahnt bald, dass Luise mehr als ein Opfer des Anschlages sein könnte.

Henning spitzt die Situation weiter zu, indem er Halm und den Leser mit dem Nicht-Wahr-Haben-Wollen und dem Entsetzen über sein Nicht-Erahnen von Luises Lebensumständen der letzten Jahre konfrontiert. Was für eine Frau war Luise geworden? Was hat sie dazu bewegt, sich zu radikalisieren und von einem IS-Kämpfer ein Kind zu bekommen? Antworten bekommt weder Lennart Halm noch der Leser. Halm muss verinnerlichen, dass er seine Schwester nicht (mehr) kannte. Wie zerrissen er sich fühlen muss, symbolisiert die kleine am Rande angedeutete Liebesgeschichte, die sich beinahe zwangsläufig im Sande verliert.

Der Kurzroman endet wieder in Köln. Einsamkeit liegt in der Luft, sowohl in der Metapher von Halms demenzkranker Mutter, die ihre Kinder nicht mehr (er)kennt als auch in dem Stück abgebrochener Kreide, das zwei Stunden später in Halms Seminarraum verlassen auf dem Boden liegt. Nach 173 Seiten in einem Zug verneigt man sich als Rezipient vor so viel sprachlicher Fragilität in einer so arg verdichteten, komplexen Geschichte, die einem ein nachdrückliches Leseerlebnis verschafft hat.

Peter Henning: Die Tote von Sant Andreu | Deutsch
Transit Buchverlag 2020 | 176 Seiten | Jetzt bestellen