Pascal Mercier: Nachtzug nach LissabonManchmal fürchtet man sich vor etwas, weil man sich vor etwas anderem fürchtet.

Raimund Gregorius, genannt Mundus, ist mit Leib und Seele Gymnasiallehrer für Latein, Griechisch und Hebräisch. Niemand kennt sich in den alten Sprachen und Texten so gut aus wie er, nie macht er einen Fehler und bei den Schülern und Kollegen ist er beliebt, obwohl sie ihn scherzhaft »Papyrus« nennen. In der Tat scheint sein Leben ziemlich verstaubt, spröde und trocken abzulaufen, bis er eines Tages auf dem immer gleichen Weg zur Schule auf einer Brücke einer Portugiesin begegnet, die dort in aufgewühltem Zustand einen Brief ins Wasser wirft. Mundus befürchtet, sie könnte springen, er nimmt sie mit in die Schule, wo sie natürlich großes Aufsehen erregt. Zwar verschwindet die Frau eine Stunde später spurlos aus seinem Leben, doch die Begegnung hat Folgen.

Mundus erscheint nicht mehr zum Unterricht. Er hat zum ersten Mal das sonderbare, ebenso beunruhigende wie befreiende Gefühl, daß er im Begriff stand, sein Leben im Alter von siebenundfünfzig Jahren zum erstenmal ganz in die eigenen Hände zu nehmen, obwohl Mundus sich aus eigenem Antrieb dazu entschied, sein Leben den alten Sprachen zu widmen. Er scheint diese Entscheidung auch nie anzuzweifeln oder zu bereuen, das Unterrichten macht ihm Spaß, doch statt in die Schule geht er jetzt in eine spanische Buchhandlung, wo ihm ein Buch voller philosophischer Betrachtungen über das menschliche Leben in die Hand fällt, geschrieben von einem Portugiesen namens Amadeu Inácio de Almeida Prado, veröffentlicht 1957 in Lissabon. Die Einleitung, die ihm der Buchhändler übersetzt, spricht ihn so sehr an, dass Mundus sich einen Portugiesisch-Sprachkurs kauft und anfängt, Prados Buch weiter zu übersetzen. Er nimmt den nächsten Zug nach Lissabon.

Er weiß, dass das, was er tut, eigentlich verrückt ist, hat aber trotzdem das Gefühl, es tun zu müssen, weil seine Lebenszeit abläuft und er nicht will, dass der Rest so verstreicht wie bisher. In Lissabon versucht er, so viel wie möglich über Prados Leben in Erfahrung zu bringen. Prado selbst ist bereits tot, aber Mundus kontaktiert seine beiden Schwestern, seinen besten Freund, seine beste Freundin, seinen ehemaligen Lehrer, und vor allem Leute, mit denen Prado zur Zeit des portugiesischen Widerstands zusammengearbeitet hat. Ab Mundus‘ Ankuft in Lissabon ist dieser Roman zu einem mindestens genauso großen Teil Prados Geschichte, und die seiner Bekannten und Verwandten, wie die von Mundus, dem ursprünglichen Protagonisten.

Auf Wunsch seines Vaters, der an einer unheilbaren und sehr schmerzhaften Rückenkrankheit litt, studiert Prado Medizin und wird Arzt, ohne sich je sicher zu sein, ob er das wirklich hätte tun sollen, denn er selbst fühlt sich vielmehr zur Poesie und Literatur hingezogen. Seine Berufswahl führt dazu, dass er eines Tages einem bei der Bevölkerung verrufenen Folterknecht der Regierung, der zahlreiche Unschuldige auf dem Gewissen hat, das Leben rettet. Als Prado daraufhin von vielen Leuten angefeindet und verachtet wird, tritt er dem portugiesischen Widerstand bei, kann hier aber natürlich nur im Geheimen tätig sein und so seinen Ruf nicht öffentlich rehabilitieren. Prado und sein bester Freund verlieben sich in dieselbe Kollegin, ihr Zirkel fliegt auf, doch die meisten können sich retten und Prado stirbt eines natürlichen Todes, an einer Gehirnblutung, unter deren Schatten er die letzten Jahre seines Lebens verbrachte.

Durch Mundus‘ Lektüre-Übersetzung enthält »Nachtzug nach Lissabon« immer wieder Passagen aus Prados Buch, in denen Prado selbst zur Sprache kommt. Die Überlegungen, die er über das menschliche Leben anstellt, sind schon für sich lesenswert: Vor allem beschäftigt er sich mit der (Un)Möglichkeit, das eigene Leben willentlich zu gestalten, aber auch mit Identitätsproblemen, die auftreten, wenn man das Gefühl hat, ein anderer zu sein als der, für den die Mitmenschen einen halten, oder wenn sich die eigenen Gefühle und Ansichten über das Leben, die Welt und das Selbst mit der Zeit wandeln.

Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon | Deutsch
Hanser 2004 (37. Auflage) | 496 Seiten | Jetzt bestellen