Einer der Holzeimer fiel zu Boden und brach entzwei. Dass er sich das Kinn aufgeschlagen und mit den Schneidezähnen in die Unterlippe gebissen hatte, war nicht so schlimm. (…) Insgeheim freute Marek sich jedoch ein bisschen, dass er blutete und der zerbrochene Eimer Jude sicherlich zum Anlass dienen würde, ihm bei der Heimkehr eine ordentliche Tracht Prügel zu verpassen. Schmerzen waren gut, glaubte Marek. Sie offenbarten ihm die Liebe und das Mitgefühl seines Vaters. Er befühlte sein Kinn und die aufgeplatzte Lippe, dann suchte er sich einen Stein mit scharfer Kante und sägte damit an seinen Wangen herum, damit sie aufgeschürft und blutig aussahen, als sei er wesentlich schlimmer gestürzt. (…) Gut so, dachte Marek. Ich verdiene diese Qual. Er lebte für die Qual. Sie gab ihm Anlass, sich über seine körperlichen Schmerzen erhaben zu fühlen.
Marek und sein Vater Jude leben mit ihrer Schafherde am Rand des kleinen Dörfchens Lapvona. Ein düsterer, hoffnungsloser Ort, in einer mittelalterlichen Welt. Ihr Alltag ist hart, karg und entbehrungsreich, so wie für alle Dorfbewohner. Die meisten sterben jung. Geplagt von Hunger und Naturkatastrophen wird ihnen das Wenige, das ihnen ihr Herrscher Villiam überlässt, von marodierenden Räuberbanden gestohlen.
Der missgestaltete Marek besitzt ein eher schlichtes Gemüt. Seine Mutter Agata ist angeblich bei seiner Geburt gestorben und so wird jedes Jahr an diesem Tag nicht sein Geburtstag gefeiert, sondern ihr Todestag betrauert. Den einzigen Trost findet Marek in seinem unerschütterlichen Glauben an Gott. Der 13-jährige Junge glaubt so bedingungslos, dass er sogar den Räubern vergeben will, die seinem Dorf die letzten Habseligkeiten stehlen wollten.
Durch eine Reihe von Verwicklungen gelangt er an den Hof von Herrscher Villiam. Dessen Verhalten ist verschwenderisch und bizarr, aber alle Untergebenen dulden es. Selbst das Schicksal seiner eigenen Familie kümmert Villiam wenig, während er immer auf der Suche nach neuen Vergnügungen ist. Er interessiert sich weder für das Leid der Bevölkerung noch für die Bedrohung durch andere Herrscher. Der Priester missbraucht in seinem Auftrag das Beichtgeheimnis. Sobald er von den Bewohnern aufrührerische Reden hört, meldet er sie Villiam, der das Dorf gelegentlich von einer Räuberbande überfallen lässt, damit die Menschen auf andere Gedanken kommen. Bei diesen Überfallen kommen häufig die Unzufriedenen im Dorf zu Tode.
Marek erlebt die Dekadenz des Adels, die Ausbeutung durch Priester und die dumpfe Hörigkeit der Dienerschaft. Selbst scheinbar gute Entwicklungen bergen häufig nur neue Qualen oder Enttäuschungen und Marek bleibt davon nicht unbeeinflusst.
Der Roman schildert ein Jahr in Lapvona, unterteilt nach den Jahreszeiten. Geprägt von Dürre, Hungersnot und Überschwemmungen. Die einzelnen Figuren beleuchten die unterschiedlichen Aspekte dieser trostlosen Welt. Vom ausbeuterischen Herrscher bis zum niedersten Bettler zeigt jeder seine Sicht auf Lapvona. Und jede ist niederschmetternder als die vorherige.
Ob es sich dabei um eine Parabel auf unsere Gegenwart handelt, mit Naturkatastrophen als Folgen des Klimawandels und diktatorischen Herrschern, die die Bevölkerung ins Unglück stürzen, mag jede Leserin, jeder Leser für sich selbst entscheiden. Vielleicht erschien der Autorin das Mittelalter auch nur als perfekte Kulisse für ihr groteskes Märchen.
Ich bin über ihre Kurzgeschichten auf Ottessa Moshfegh aufmerksam geworden. Der Erzählband »Heimweh nach einer anderen Welt« hat mich sofort begeistert und seitdem war jede Veröffentlichung von ihr ein Grund zur Freude. Die Autorin ist sehr abwechslungsreich in ihrer Themenwahl und jeder ihrer Romane eine Überraschung.
Wie immer ist auch »Lapvona« brillant geschrieben. Die Sätze sind auf den Punkt und häufig blitzt äußerst schwarzer Humor auf. Aber in seiner niederschmetternden Düsternis und Hoffnungslosigkeit ist die Geschichte kaum zu ertragen. Und das muss man als Autor*in erstmal hinkriegen.
Ottessa Moshfegh: Lapvona | Deutsch von Anke Caroline Burger
Hanser Berlin 2023 | 336 Seiten | Jetzt bestellen