Nach seiner »Bekehrung« hatte es der Schleicher vom Vorarbeiter über den Jauchegrubenkommandeur bis zum Schlafsaalaufseher gebracht. Aber warum er dann ausgerechnet ihn, der ja noch ein Pimpf war, zu seinem Vertrauten gewählt hatte, blieb ihm lange ein Rätsel. Vielleicht, weil er wie der Schleicher ein Vergessener war. Obwohl er kein hässliches Kind, vollkommen gesund und »in Maßen« intelligent sei, so hatte Dr. Wassermann es kurz vor Weihnachten einmal den versammelten Kindern gesagt, hätten sich für Nummer 13 auch in diesem Jahr leider keine neuen Eltern gefunden.
Nummer 13 – das war er, Hardy Rohn. Wieder keine Post für Nummer 13. Keine Geburtstagsgeschenke für Nummer 13. Keine Anrufe, keine Besuche.
Am 21. Juli 1969 betritt der erste Mensch den Mond und es ist aus mehreren Gründen ein bedeutender Tag in diesem Roman. Während das historische Ereignis im Fernsehen übertragen wird, flieht der junge Hardy aus seinem Kinderheim. Doch seine Flucht misslingt, und er wird für den Versuch hart bestraft. In der benachbarten Strafvollzugsanstalt nutzt währenddessen eine verurteilte Giftmörderin die allgemeine Ablenkung, um einen Selbstmordversuch zu unternehmen. Dies ist der Auftakt zu einem Roman, der das Leben von Hardy Rohn erzählt, und das seiner Eltern und Großeltern.
Hardy wächst in den ersten Jahren als Heimkind auf. Er wurde im Gefängnis geboren, weil seine Mutter jene Giftmörderin ist, und sein Vater, ein in Deutschland stationierter amerikanischer Kampfpilot, inzwischen nach Vietnam versetzt wurde.
Das Leben in den Waisenhäusern der sechziger Jahre erweist sich als harte Belastungsprobe, aber Hardy hat Glück und wird von einem kinderlosen Ehepaar adoptiert. Der Mann ist Versicherungsvertreter, seine Frau Lehrerin. Hardys Interesse für die Raumfahrt wird von ihnen unterstützt, und er beschließt, Astronaut zu werden und irgendwann zum Mond oder noch besser, gleich zum Mars zu fliegen. Doch dem wissenschaftlich begabten Jungen steht eine ganz andere Karriere bevor.
Ich lese und schätze das Werk von Norbert Zähringer seit seinem Debüt »So« von 1999. »Einer von vielen« ist für mich ein Meisterwerk. Auch in diesem Buch beeindruckt wieder die meisterhafte Konstruktion der Geschichte. Der Roman verläuft nicht chronologisch, sondern springt immer wieder zwischen Stationen innerhalb des vergangenen Jahrhunderts umher. So wechselt die Handlung zwischen Szenen der beiden Weltkriege und des Vietnamkrieges, zwischen dem Familienleben in den Siebzigern und dem Geschehen in einem modernen Startup-Unternehmen. Nach und nach werden die fehlenden Verbindungsstücke zu einem genau konstruierten Gesamtbild ergänzt. Der Leser erhält häppchenweise Einblick in die turbulente Familienchronik:
Die Erlebnisse von Hardys Großvater Adam in den Gefechten des Ersten Weltkrieges und im Lazarett, sowie seine spätere Arbeit als Funker auf See, die ihn ins Baltikum führt.
Das Schicksal seine Tochter Martha, Hardys Mutter, die im Zweiten Weltkrieg vor der Roten Armee fliehen muss und in die alte Heimat zurückkehrt, wo sie nicht willkommen ist. Sie durchlebt eine harte, entbehrungsreiche Zeit, in der sie schließlich als Mörderin verurteilt wird.
Und natürlich der Aufstieg von Hardy selbst, aus der rheinhessischen Provinz bis nach Kalifornien und darüber hinaus.
»Wo wir waren« ist beste Unterhaltungsliteratur. Clever konstruiert, faszinierend zu lesen und besonders in den Kriegsszenen sowie bei den Schicksalen der Heimatvertriebenen wirklich aufwühlend und beunruhigend.
Norbert Zähringer: Wo wir waren | Deutsch
Rowohlt 2019 | 512 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen