Nicolás Giacobone: Das geschwärzte NotizbuchEine Person, die sich in ihrem Leben viel bewegt, die in ihrem Leben nicht ohne Bewegung sein kann, kann nicht schreiben.

Eine Person, die nicht fähig ist, stundenlang auf einem Stuhl zu sitzen, auf einer Matratze zu liegen oder sich auf einem Sofa zu räkeln, kann nicht schreiben.

Ich funktioniere als Drehbuchautor, nicht weil ich ein großer Schriftsteller wäre (mir ist mehr als klar, dass ich ein mittelmäßiger Schriftsteller bin), sondern weil ich fähig bin, in diesem Keller zu leben.

Pablo Betances hat es in seinem Leben zu nichts gebracht. Über vierzig, mittellos und perspektivlos muss er bei seiner Mutter leben und in der winzigen Wohnung sogar ein Bett mit ihr teilen. Doch dann entdeckt er sein Talent zum Schreiben und dieses Talent bleibt nicht unentdeckt.

Der weltberühmte Regisseur Santiago Salvatierra lädt ihn zu sich nach Hause ein und sperrt ihn in seinen Keller, damit er dort für ihn Drehbücher schreibt. Mit überwältigendem Erfolg: Zweimal hintereinander erlangt er den Oscar für den besten ausländischen Film. Ihr drittes gemeinsames Werk soll nun alles Bisherige in den Schatten stellen, doch Pablo hadert immer mehr mit seinem Schicksal. Seine Gedanken hält er in einem Notizbuch fest, dass er anschließend schwärzt, damit sein Entführer nicht darin lesen kann. Auch der Regisseur steht durch die anlaufende Produktion unter enormem Druck und macht Pablo klar, dass er wortwörtlich um sein Leben schreibt.

Die Parallelen zu Stephen Kings »Misery« sind deutlich, auch wenn hier weniger Wert auf die Thrillerelemente gelegt wird. Womit ich nicht sagen will, dass dieser Roman nicht spannend sei. Ganz im Gegenteil, man fiebert von Anfang bis Ende mit Pablo mit, aber es geht dabei weniger um seine Flucht. Im Vordergrund steht nicht die Gefangenschaft, sondern die Kunst. Die Haushälterin, die ihn versorgt, trägt zwar einen Revolver in ihrer Schürze, doch von diesem Hindernis abgesehen, wagt Pablo nie einen ernstzunehmenden Fluchtversuch. Stattdessen ringt er mit seinem Werk und mit seinem schärfsten Kritiker, der gleichzeitig sein Entführer ist.

Es gibt einige Überraschungen in der Handlung, die nicht den üblichen Sehgewohnheiten entsprechen, die aber dadurch nur umso wirkungsvoller sind.

Den größten Anreiz bietet »Das geschwärzte Notizbuch« allerdings durch Pablos Auseinandersetzung mit seinem Werk: den Phasen von Euphorie und Verzweiflung, dem Zeitdruck, unter dem er arbeiten muss, die Diskussionen mit Santiago und den vielen interessanten Gedanken über das Schreiben an sich. Für den Regisseur jedoch ist Pablo nur ein besserer Sekretär, eine simple Schreibkraft, um seine geniale Version zu Papier zu bringen.

»Das geschwärzte Notizbuch« ist (hoffentlich) nicht autobiografisch, aber man erkennt leicht die Inspiration zu dieser Geschichte. Die enge Zusammenarbeit des Autors mit dem Regisseur Alejandro González Iñárritu (»Amores perros«, »Babel«, »The Revenant«) bei den Filmen »Biutiful« und »Birdman« zeigt deutliche Parallelen. Wen die genannten Filme genauso begeisterten wie mich, der wird auch diesen Roman mit großem Genuss lesen. »Das geschwärzte Notizbuch« ist klug, spannend und oftmals überraschend witzig.

Nicolás Giacobone: Das geschwärzte Notizbuch | Deutsch von Christian Sönnichsen
Heyne Encore 2019 | 304 Seiten | Jetzt bestellen