»Wir liegen alle in der Gosse, aber einige von uns betrachten die Sterne.« (Lord Darlington in »Lady Windermeres Fächer«, 3. Akt von Oscar Wilde)

Der Mensch ist geboren, etwas Großes zu erschaffen. Ob bahnbrechende Erfindungen, Flüge zum Mond, Bestseller-Romane oder Super-Hits – wollen wir nicht alle hoch hinaus? Der Protagonist in Nele Pollatscheks aktuellem Roman »Kleine Probleme«, erschienen im Verlag Galiani Berlin, hat dasselbe Ziel. Dabei will er auch noch alles richtig machen. Er bezeichnet sich als Künstler, will den großen Roman schreiben. Entstanden ist bis jetzt jedoch keine einzige Zeile. Immerhin träumt er schon davon, wie sein Buch aussehen könnte. Außerdem sind da noch all die anderen kleinen Probleme. Doch hat die nicht jede*r?

Dreimal musste Nele Pollatscheks Lesung zu diesem Roman in Magdeburg verschoben werden. Erst fiel ihr Zug aus, danach streikte die Bahn. Die Pkw-Fahrt musste die Autorin aufgeben, weil unzählige Traktoren die Autobahn blockierten. Schnell wurde aus Dezember Mai. Ein Fall von (unfreiwilliger) Prokrastination? Fühlen wir uns nicht alle ein wenig wie Nele Pollatschek, pardon, wie Lars? So heißt der Held des Buches. Er ist 49 Jahre alt, mit Johanna verheiratet und hat zwei Kinder. Seine Frau hat ihn verlassen und reiste nach Lissabon. Die Kinder sind selbständig.

Am 31. Dezember gibt es für Lars noch etwas zu tun – »…eigentlich alles«, wie er zu Beginn des Buches gesteht. Doch womit soll er anfangen inmitten leerer Pizza-Kartons, voller Aschenbecher und verschüttetem, gut gezuckertem, kalten Kaffee? Allein in dem Einfamilienhaus, in dem gerade nur er wohnt und niemand putzt, erstellt er sich eine pragmatische To-Do-Liste. Wohl wissend stellt er dabei fest: »Es ist natürlich vollkommen unmöglich, alles an einem einzigen Tag zu schaffen.«

Die dreizehn aufgestellten Punkte von »Regenrinne« über »Putzen« und seinem »Teil 2«, »Vater anrufen«, »Nudelsalat« bis hin zum »Lebenswerk« und »Es gut machen« geben einen umfassenden Einblick in die (Midlife-?)Krise von Lars. Sie schmecken nach Tragik einerseits und fördern andererseits viel Komisches zu Tage. Wer hat nicht auch schon eine solche Liste geschrieben, sie wieder und wieder verworfen oder musste nicht dringend irgendetwas erledigen? Wem wachsen die täglichen kleinen Verpflichtungen gepaart mit den großen Aufgaben wie »mehr Sport zu treiben«, »das Rauchen aufzugeben« oder »gesünder zu essen« nicht auch einmal über den Kopf?

An Lars‘ philosophischen Überlegungen und deren sich windenden Auswüchsen teilzuhaben, entpuppt sich im Verlauf des Lesens zum reinen Vergnügen. Allein die Wortschöpfungen beim Zusammenbau von Linas Bett aus einem bekannten schwedischen Möbelhaus! Wie grandios kann man scheitern! Nele Pollatscheks Ton in diesem Roman kommt mit einer ungeheuren Bandbreite daher, die sich von der Selbstbetrachtung bis hin zur Satire, von Empathie bis temporeich bewegt. Daraus entwickelte sich am Abend der Lesung in Magdeburg noch einmal eine eigene Dynamik.

Man kann Lars mögen oder auch nicht, ein Herz für die Prokrastinierer*innen haben oder zu den Glücklichen zählen, die stets alles in den Griff bekommen. Nele Pollatschek urteilt nicht. Sie versteht es, durch ihre einnehmende Art zu erzählen, die Lesenden in die Geschichte zu ziehen. Darin liegt das Einzigartige dieses Romanes.

Ebenso gelungen ist das Cover. Ich neige dazu, immer wieder über die Prägungen zu streichen, um sie zu fühlen. Nach der Entstehung gefragt, kommt Nele Pollatschek auf Lars‘ Traum zurück, in den er sich sein großartiges Buch vorstellt. Damit sich die Autorin in einen vernieselten, hässlichen Vorstadt-Dezembertag hineindenken konnte, nutzte sie ein YouTube-Video, in dem Regen auf einen Teich fällt. »Der Regen musste auf den Titel«, erzählt sie. In der Nähe ihres Schreibtisches hängt das Bild eines japanischen Künstlers mit dem abgebildeten Vogel. Die Autorin gesteht, dass sie ganze zwei Jahre über das Cover nachgedacht hat, um die Grafikdesignerin von ihrer Idee zu überzeugen. Der Vogel musste auch auf den Schutzumschlag, weil er ihr sagt, »wie es sich anfühlt, Lars zu sein.«

Am Ende hat Lars auch meine Sympathie gewonnen. Sein Versuch, alles richtig zu machen, ist schon heldenhaft. Dass hier eine Liebesgeschichte in einer Langzeitbeziehung verpackt wird, bereichert das Repertoire ungemein. »Kleine Probleme« (ohne »Aufschieberitis«) zu lesen, lohnt sich.

Nele Pollatschek: Kleine Probleme | Deutsch
Galiani 2023 | 208 Seiten | Jetzt bestellen