Nele Pollatschek: Dear Oxbridge – Liebesbrief an England»Die Privilegien der englischen upper class sind so groß, so alt und so mit den persönlichen Biografien verwoben, dass sie ein Mitglied dieser Klasse eigentlich nicht hinterfragen kann, ohne damit seine ganze Identität zu gefährden. Die Grundbedingungen für eine Gesellschaft, die so langlebige und rigide Klassen hat wie die englische, ist die Vorstellung, dass Menschen natürlicherweise verschiedenen Klassen angehören – dass einige einfach besser sind.« (Nele Pollatschek in »Dear Oxbridge – Liebesbrief an England«)

Zugegeben: Bis zu meinem Besuch in Straßburg und der Besichtigung des Europäischen Parlaments mit dem damaligen Europa-Abgeordneten unseres Wahlkreises für die SPD habe ich mich wenig für Europa interessiert. Drei politisch vollgepackte Besichtigungstage und zwei spannende Vorträge änderten meine Haltung. Wo ich nur konnte, begann ich für unseren Kontinent und die Grundidee von Einheit und Vielfalt im Sinne der Rechtstaatlichkeit, der Grundrechte und der Vielfalt der Sprachen, der Kulturen und Religionen, zu werben.

Englands Ausstieg traf mich deshalb wie ein kalter Waschlappen. Mehrere Gespräche mit einem Insel-Fan aus unserer Bekanntschaft wirkten wie Tropfen auf die heißen Brocken des Unverständnisses. Nele Pollatscheks im Januar dieses Jahres erschienene Buch »Dear Oxbridge – Liebesbrief an England«, erschienen im Verlag Galiani Berlin, kam für mich gerade zur rechten Zeit.

Die Autorin hat einen Teil ihres Studiums in Oxford und Cambridge absolviert. In ihrem Buch erzählt sie klug und unterhaltsam über ihren Weg dorthin, setzt sich verständlich mit den existierenden Strukturen auseinander und beschreibt die immer noch sehr klassenbewusste englische Gesellschaft und deren Anteil am Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Noch nie hat mich ein Sachbuch derart mitgerissen, dass ich es nahezu ohne Pause durchlas.

Gespannt verfolgte ich, wie sich Nele Pollatschek an den Tag nach dem Referendum erinnert, an dem sie über Nacht schuldenfrei wurde und sich reich fühlte. Schon wähnt man sich als Leser mittendrin im Schlamassel der Wortbedeutungen von Reichtum, Klasse und Gleichberechtigung. Führt die Ursache des unverständlichen Ausstiegs der Briten in diese Richtung? Welche Rolle spielen Geld, entsprechende Verbindungen von der Schule bis zum traditionellen College?

Wer es schafft, in einem der reichsten Colleges aufgenommen zu werden, zahlt für den Bachelor-Abschluss jährlich 6000 und für den Master 9000 britische Pfund. Die Ausgaben für den täglichen Bedarf sind dafür relativ gering, weil sie vom College subventioniert werden. Die Bereitschaft vieler upper-class-Eltern, für einen Studienplatz ihrer Kinder in Oxbridge diese enormen Summen auszugeben, ist hoch. Das alte Klassendenken ist sehr tief verwurzelt.

Nele Pollatschek verrät im Verlauf des Buches, wer die Self-made-men sind, die sich im Bullingdon-Club organisieren. Sie klärt über die sogenannten »toffs« in den roten Hosen auf, zu deren berühmtesten Vertretern Männer wie Boris Johnson oder David Cameron gehören. Schonungslos führt die Autorin dem Leser vor Augen, warum sie nichts verwerflicheres als Armut kennen und an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen festhalten wollen.

So wird verständlich, wer den Brexit herbeigeführt hat, den die Mehrheit der Briten ablehnt. Wie und vor allem welche Falschinformationen verbreitet wurden, um Mehrheiten zu gewinnen, sorgen für den einen oder anderen AHA-Effekt. Nele Pollatschek lässt den Leser an ihren Erfahrungen und Erlebnissen teilhaben ohne dabei schulmeisterlich zu wirken.

Urteilsfrei und vielschichtig beschreibt sie die Unterschiede zwischen dem Lehrverständnis an deutschen und englischen Universitäten. An Pollatscheks Ton lässt sich einerseits Wertschätzung gegenüber dem Land erkennen, in dem sie jahrelang lebte, andererseits betrachtet sie die Situation kritisch. Das hier präsentierte Insider-Wissen unterhält genauso wie es jede Menge Hintergrundinformationen liefert.

Nele Pollatschek: Dear Oxbridge – Liebesbrief an England | Deutsch
Galiani Berlin 2020 | 240 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen