Neil Gaiman: Nordische Mythen und SagenIm Vorwort outet sich Neil Gaiman als Fan der legendären Marvel-Comics, die so illustre Helden wie Spiderman, Captain America und im übrigen auch Thor hervorgebracht haben. Besonders Letzterer hatte es ihm schwer angetan. Wohin das Ganze dann später geführt hat, ist bekannt: Neil Gaiman blieb seiner Liebe zu Comics treu und sein »Sandman« verhalf ihm schließlich zu Weltruhm. Nun blieb es jedoch nicht dabei, und mittlerweile hat er sich auch als Romanautor längst einen Namen gemacht (was für eine Untertreibung!). Die alten Götter finden sich essentiell auch rein sprachlich in seinem Werk wieder (»American Gods«). Was liegt da näher, als den großen Alten in angemessener Form zu huldigen, sprich: in Form eines Werkes, das dem Titel nach ein Sachbuch zu sein scheint, jedoch beim Lesen eher als Roman rüberkommt.

Klar, der eine oder andere aus dieser illustren Truppe ist natürlich bekannt, auch dank der Comics aus Kindertagen, allen voran das Dampfpaket Thor mit seinem Hammer Mjöllnir, der immer wieder zu ihm zurückkehrt und mit welchem Thor alles dem Erdboden gleichmacht, egal worauf er dessen göttliche Kraft auch anwendet. Odin, der Allvater, ebenfalls in aller Munde – aber wussten Sie, dass er eines seiner Augen weggegeben hat, um durch dieses Opfer noch mehr Weisheit zu erlangen? Selbst Tyr, der einhändige Kriegsgott, dürfte zumindest Heavy Metal-Fans ein Begriff sein, sofern sie das (von Tony Martin eingesungene) gleichnamige Black Sabbath-Album besitzen. Interessierte werden auch mit dem Weltenbaum Yggdrasill etwas anfangen können, aber das war es dann vermutlich auch schon.

Schon mal was von Reifriesen gehört oder Ragnarök, der finalen Schlacht, der alle Götter zum Opfer fallen werden? Oder von so faszinierenden Wundergaben, wie z. B. Draupnir, Odins goldenem Armreif, der sich in neun Nächten achtmal reproduziert? Oder von Gungnir, Odins Speer, der immer sein Ziel erreicht? Die Liste ließe sich beliebig fortführen.

Nun könnte man denken, dass die nordische Götterwelt ein recht dröges Lesevergnügen ist – aber weit gefehlt. Neil Gaiman erzählt diese alten Geschichten auf eine sehr unterhaltsame Weise und man kann sich des öfteren einen Lacher nicht verkneifen, wenn die eine oder andere bornierte Gottheit sich mal wieder bis auf die Knochen blamiert (herrlich beispielsweise auch die Hochzeit des potthässlichen Riesen Thrym mit der wunderschönen Freya. Merkwürdig nur, dass diese sich beim Festbankett verschleiert zeigt und einen für eine zarte Frau geradezu unanständigen Appetit an den Tag legt).

Mein persönlicher Favorit ist der bösartig, listige Loki, Odins Blutsbruder. Man könnte fast schon sagen, die nordische Sagenvariante von J.R. Ewing, allerdings ist Loki noch um einiges listiger und hinterhältiger. Für so manchen dieser sinistren Einfälle in einem Drehbuch hätte Larry Hagman wahrscheinlich seinen linken Arm gegeben.

Neil Gaiman: Nordische Mythen und Sagen | Deutsch von André Mumot
Eichborn 2019 | 256 Seiten | Jetzt bestellen