»Was darf’s denn sein?«, fragte die Barista, eine junge Amerikanerin asiatischer Herkunft mit interessanten Piercings, Tattoos anstelle von Augenbrauen und einem Auftreten, das Ich bin sooo interessant, und dieser Job ist so ätzend mit Ich führe insgeheim ein richtig cooles Leben, und dieser Job ist eine super Fassade mischte. Auf ihrem Namensschild stand: »Julie Lee: Professionelle« (was ich grob als »Klugscheißer-Oboistin« verstand).
Wir bestellten etwas zu trinken – Tristan schwarzen Kaffee; ich selbst etwas, das ich normalerweise nie nehmen würde: einen komplizierten Irgendwas-Latte-Irgendwas mit einer Menge Modewörtern, den ich aufs Geratewohl auf der Getränkekarte über dem Tresen ausgewählt hatte und der bei unserer Barista ein kurzes Grinsen hervorrief. Agenten von obskuren Regierungseinrichtungen, überlegte ich, wurden vermutlich in der psychologischen Beurteilung potenzieller Rekruten ausgebildet, und solange ich nicht genau wusste, ob ich sein Angebot weiterverfolgen wollte oder nicht, hatte ich keine Lust, von ihm richtig eingeschätzt zu werden. Das Ende vom Lied war, dass er sich mit einer duftenden Tasse dunkle Röstung hinsetzte, ich dagegen mit etwas nahezu Untrinkbarem.
Die Magie ist aus der heutigen Welt vollkommen verschwunden. Genauer gesagt verschwand sie im Jahr 1851 durch ein einschneidendes Ereignis.
Der amerikanische Geheimdienstmitarbeiter Tristan Lyons möchte mit der Hilfe der Linguistin Melisande Stokes die Magie in der Gegenwart wiederherstellen, da auf diesem Gebiet längst ein globales Wettrüsten begonnen hat. Der Wissenschaftler Frank Oda erforscht schon seit Jahren alternative Zeitlinien und erschafft gemeinsam mit den beiden eine Zeitmaschine. Mithilfe modernster Technologie und echter Hexenmagie können sie nun in die Vergangenheit reisen.
Sie gründen die Organisation D.O.D.O. (Department of Diachronic Operations), um die Magie in die heutige Welt zurückzuholen. Über Jahre schaffen sie ein gewaltiges Netzwerk aus Spezialisten, die die Zeitreisenden in die Lage versetzen, in der Vergangenheit überzeugend aufzutreten. Natürlich müssen sie dafür die damaligen Sitten und Gebräuche lernen und sich auch im Schwertkampf üben. Ständig kommen neue Mitarbeiter hinzu und nicht alle sind nur an den wissenschaftlichen Aspekten interessiert. Sei es ein Wikinger, der in die Gegenwart transportiert wird und die finanziellen Vorteile der Zeitreise erkennt (mit Wal-Mart als modernes Eldorado) oder unfähige Bürokraten und Karrieristen, denen die Leitung von D.O.D.O. übergeben wird. Und natürlich führt das Herumspielen mit verschiedenen Zeitsträngen zu einigen Verwicklungen. Ihr Wirken in der Vergangenheit bleibt nicht ohne Folgen, und die D.O.D.O.–Mitarbeiter können nicht immer sicher sein, dass bei ihrer Rückkehr die Welt noch in dem Zustand ist, in dem sie sie verlassen haben.
Die erste Ankündigung dieses Romans hat mich sofort in freudige Erregung versetzt, die die lange Zeit überdauerte, bis ich die deutsche Übersetzung in Händen hielt. Doch die Lektüre von »Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O.« begann für mich als Leseenttäuschung, was unmittelbar mit meiner Vorfreude auf dieses Werk zu tun hat.
Der Einstieg ist nicht schlecht, aber es ist über weite Strecken belanglos und erinnert an brave All-Age-Fantasy. Die Charaktere sind unglaublich flach, die Geschichte ist unnötig langatmig und nur ganz selten gibt es mal eine interessante Stelle, die es verdient, mit dem Namen Neal Stephenson in Verbindung gebracht zu werden. Leider hat man im ersten Viertel die meiste Zeit den Eindruck, dass er zu diesem Werk nur ein paar launige Anekdoten beigesteuert hat.
Die beiden Autoren haben das Buch wohl wortwörtlich zusammen geschrieben. Es gibt keine getrennten Handlungsstränge, die sie untereinander aufgeteilt haben könnten, vielmehr scheinen sie sich beim Schreiben abgewechselt zu haben. Ich bin mit Stephensons Werk gut genug vertraut, um zu erkennen, was von ihm verfasst wurde. Noch einfacher ist in diesem Buch allerdings zu erkennen, was nicht von ihm stammt.
Nicole Galland nutzt einen schlichten, eher braven Stil. Nicht direkt langweilig, aber es ist kein Satz dabei, den man zweimal lesen möchte. Und dann – bäm – mit einem Mal (auf Seite 22, um genau zu sein) kommt der eingangs zitierte Absatz, der sich völlig vom bisherigen Text unterscheidet. Die weitere Lektüre gestaltet sich derart, als würde man einem Duett lauschen und immer nur darauf warten, dass der Lieblingssänger singt. Leider, um in diesem Bild zu bleiben, taucht Stephenson nur selten im Hintergrundchor auf.
Im zweiten Drittel trägt das Buch dann deutlicher Stephensons Handschrift. Formal besteht der Roman aus verschiedenen Textformen wie Briefen, E-Mails, Tagebucheinträgen und Gesprächsprotokollen. Selbst Actionszenen werden auf diese ungewöhnliche Weise dargestellt, was oftmals sehr reizvoll ist. Der Aufbau der D.O.D.O.-Organisation enthält einige wunderbar schräge Ideen und könnte auch als Satire auf ein Startup-Unternehmen betrachtet werden, aber es gibt auch einigen Leerlauf, auf den man gut hätte verzichten können.
Nach dem lahmen Beginn konnte mich das Buch einfach nicht mehr packen. Es besitzt viele gute Ideen, ist aber insgesamt eine Enttäuschung für mich. Mit 864 Seiten ist der Roman um einiges kürzer, als die übrigen Werke von Stephenson, trotzdem wurde es mit einem großzügigen Zeilenabstand auf das übliche Backsteinformat gebracht und mit einem stolzen Preis versehen.
Fast zeitgleich mit der deutschen Veröffentlichung kam die Ankündigung für den nächsten »echten« Stephenson, der im Juni 2019 in den USA erscheint. Der Klappentext klingt sehr vielversprechend. Allerdings tat er das bei diesem Werk auch. Ich bin gespannt.
Neal Stephenson & Nicole Galland: Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O.
Deutsch von Juliane Gräbener-Müller
Goldmann 2018 | 864 Seiten | Jetzt bestellen