Behalten wir das Problem der Existenz Gottes einem späteren Band vor und stipulieren einfach, dass auf diesem Planeten irgendwie sich selbst replizierende Organismen entstanden sind, die sofort versucht haben, einander loszuwerden, und zwar entweder, indem sie ihre Umgebung mit Rohkopien ihrer selbst überschwemmten, oder durch direktere Methoden, auf die hier wohl nicht weiter eingegangen werden muss. Die meisten von ihnen scheiterten und ihr genetisches Erbe wurde für immer aus dem Universum gelöscht, aber ein paar fanden eine Möglichkeit, zu überleben und sich fortzupflanzen. Nach ungefähr drei Milliarden Jahren dieser manchmal verrückten, häufig aber langweiligen Fuge von Sinneslust und Schlächterei wurde in Murdo, South Dakota, Godfrey Waterhouse IV als Sohn von Blanche, Ehefrau eines kongregationalistischen Predigers namens Bunyan Watherhouse, geboren.
Wer so weit ausholt, der möchte keine Kurzgeschichte erzählen, und was sich auf diesen 1180 eng bedruckten Seiten, in mehreren Handlungssträngen und auf zwei Zeitebenen alles abspielt, lässt sich kaum in wenigen Sätzen zusammenfassen. Hier ein Versuch:
Während des Zweiten Weltkrieges arbeitet Lawrence Pritchard Waterhouse zusammen mit Alan Turing an den Verschlüsselungssystemen der deutschen Wehrmacht. Nachdem der Enigma-Code geknackt ist, soll diese Tatsache vor den Nazis geheim gehalten werde. Dazu gründet man eigens die Abteilung 2702. Corporal Bobby Shaftoe ist das ausführende Organ dieser Abteilung und kommt während seiner Einsätze einem gewaltigen Goldschmuggel zwischen Japan und Nazi-Deutschland auf die Spur.
Fünfzig Jahre später, in den Neunzigern, will Randy Waterhouse (Enkel von Lawrence) mit einem Geschäftspartner einen Datenhafen in Südostasien außerhalb aller Hoheitsgebiete errichten. Beim Verlegen eines Datenkabels unter Wasser entdecken Douglas Shaftoe (Sohn von Bobby) und seine Tochter Amy ein gesunkenes U-Boot. Plötzlich tauchen alte Bekannte aus der Vergangenheit auf, deren Suche nach dem Gold nie endete.
Dies ist aber nur die Spitze des Eisberges. Die Handlung schlägt ständig Haken, und überraschende Wendungen warten in jedem Kapitel. Stephensons lakonische Erzählhaltung erinnert an Boyles »Wassermusik«, und er lässt seine Helden in dieser abenteuerlichen Geschichte viel ertragen.
Randy Waterhouse ist ein typischer Nerd, den man eher in einem Keller voller Computer erwarten würde, als auf der Jagd nach einem Nazi-U-Boot irgendwo im asiatischen Meer. Bobby Shaftoe, eine Mischung aus Jack Bauer und Indiana Jones, ist Marine mit Leib und Seele und wird von einem Krisenherd der Welt zum nächsten geschickt. Dabei begegnet er zahlreichen historischen Gestalten, wie z. B. Ronald Reagan während dessen Militärzeit, und lernt den Gebrauch von Rauschmitteln zur Leistungssteigerung kennen:
»Haben Sie schon mal von Mary Jane gehört?«, fragt Root.
Shaftoe – Vorbild und Anführer – unterdrückt den Impuls zu sagen: Von ihr gehört? Gevögelt hab ich sie!
»Das da ist die konzentrierte Essenz«, sagt Enoch Root.
»Also, irgendwann gab es mal eine Gruppe Moslems namens hashishin, die haben das Zeug gegessen und dann sind sie losgegangen und haben Leute umgebracht. Sie waren so gut darin, dass sie berühmt oder vielmehr berüchtigt wurden. Mit der Zeit hat sich die Aussprache des Namens verändert – wir kennen sie als Assassinen, d. h. Mörder.«
Es tritt angemessen respektvolles Schweigen ein. Schließlich sagt Sergeant Shaftoe: »Worauf warten wir eigentlich noch?«
Sie essen etwas davon. Shaftoe als der ranghöchste anwesende Unteroffizier isst etwas mehr als die anderen. Nichts tut sich. »Der Einzige, den ich Lust hätte umzubringen, ist der Kerl, der uns das Zeug verkauft hat«, sagt er.
Der Autor der beiden Science-Fiction-Klassiker »Snow Crash« und »Diamond Age« hat hier fast vollständig auf futuristische Elemente verzichtet und sich der Vergangenheit zugewandt. »Cryptonomicon« ist ein historischer Thriller im Zweiten Weltkrieg, ein Abenteuerroman vom Überleben im pazifischen Inseldschungel, ein Wirtschaftskrimi über die Informationsbranche, ein Detektivroman über Mathematik und Kryptologie und gleichzeitig eine Parodie auf alle diese Genres. Das Buch funktioniert in jeder dieser Formen, und mehr als alles andere ist es ein fesselnder und unterhaltsamer Schmöker.
Neal Stephenson: Cryptonomicon
Deutsch von Nikolaus Stingl und Juliane Gräbener-Müller
Goldmann 2005 | 1.180 Seiten | Jetzt bestellen