Dieses Mal, wie jedes Mal, wenn die Kämpfe beginnen, wird es schlimmer sein als zuvor. Der neue Kampf ist immer der schlimmste, der gewalttätigste, er ungezügeltste, es ist eine fortwährende Eskalation. Das ist die einzige Regel.
Und wenn die Invasion kommt? Niemand weiß, wie und wann oder auch nur, ob das Blutvergießen jemals ein Ende haben wird. Nur, dass beide Seiten um Gerechtigkeit kämpfen, sich im Namen der gerade Getöteten umbringen, denen zur Ehre, die starben, weil sie die Tode derer gerächt haben, die vor ihnen Rache übend starben.
Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen (2002 und 2014) in Berlin, Paris, Jerusalem und den Grenzbereichen Israels. Er verknüpft mehrere Handlungsstränge miteinander und stellt ungewöhnliche Paarungen von Menschen vor. Da wäre ein Liebespaar, das auf verschiedenen Seiten eines andauernden Konfliktes steht. Sie ist Israelin, er ein Palästinenser. Treffen können sie sich nur in dem unterirdischen Tunnelsystem unter den verfeindeten Gebieten. Außerdem ein Mossadspion, der seit zwölf Jahren in einem geheimen Gefängnis in der Wüste sitzt. Sein einziger Kontakt ist der namenlose Wächter, der ebenso wie er ein Gefangener ist, weil er seinen Posten nicht verlassen kann. Und schließlich der einzige, der von diesem Gefängnis weiß, ein General, der seit Jahren im Wachkoma liegt und von seiner engsten Vertrauten gepflegt wird.
»Dinner am Mittelpunkt der Erde« macht es dem Leser nicht leicht, die Zusammenhänge zu erkennen. Namen werden nicht oft genannt, viele Figuren nur nach ihrer Tätigkeit bezeichnet: Wärter, General, Kellnerin, Kartograf. Aber es bereitet jedes Mal Freude und Genugtuung, wenn man ein neues Teil in diesem komplexen Puzzle entschlüsseln kann.
Die klare Sprache dagegen gibt dem Buch schon fast einen dokumentarischen Charakter und passt hervorragend, um sich in der anfänglich rätselhaften Handlung zurechtzufinden. Nathan Englander gelingt es überzeugend, die unterschiedlichen Sichtweisen des Konfliktes darzustellen, indem er Menschen von beiden Seiten gegenüberstellt. Sei es das jüdisch-palästinensische Liebespaar im Grenzgebiet oder die Bekanntschaft des geflohenen Palästinensers Farid mit dem kanadischen Elektroschrotthändler Joshua, die in Berlin demselben Yachtclub beigetreten sind. Auch der General durchlebt in seinem Wachkoma die Erinnerungen an vergangene Militäroperationen und verzweifelt schier an dem sinnlosen Sterben.
Was dieses Buch sehr gut darstellt, ist die Aussichtslosigkeit und die Hoffnungslosigkeit des Palästina-Konfliktes. Der Roman liefert ein bedrückendes Bild vom Zustand Israels, denn eine Lösung scheint nicht möglich, egal wie viele Jahre es noch andauern wird und wie viele Tote es auf beiden Seiten noch geben muss. Eine Lösung sehen weder die Figuren noch der Autor selbst. Aber diesen Anspruch hat der Roman auch nicht. Dafür liefert er einen vielschichtigen Einblick in diesen langjährigen Konflikt, stellt mehrere faszinierende Charaktere vor und funktioniert darüber hinaus auch als spannender Agententhriller.
Zur weiteren Lektüre empfehle ich Englanders großartige Erzählbände »Zur Linderung eines unerträglichen Verlangens« und »Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden«.
Nathan Englander: Dinner am Mittelpunkt der Erde | Deutsch von Werner Löcher-Lawrence
Luchterhand 2019 | 288 Seiten | Jetzt bestellen