Als jemand, der 1966 das Licht der Welt erblickte, kann ich mich noch dunkel daran erinnern, wie die Sesamstraße zu Beginn der 1970er Jahre nach Deutschland kam: mit Herrn Huber, Bibo und Oskar aus der Mülltonne. Kulturell geprägt haben mich wohl eher amerikanische Spielfilme und TV-Serien, aber die Puppen von Jim Henson sind – auch und vor allem durch die spätere Ausstrahlung der Muppet-Show – fest verankert in der DNA meiner Kindheit. Wahrscheinlich können das die meisten Menschen meines Jahrgangs von sich behaupten – zumindest in der westlichen Welt.
Dass sich die berühmte Kinderserie schnell zu einem äußerst erfolgreichen Exportschlager entwickelte, war mir durchaus bekannt. Dass sie von 1996 bis 2010 auch in Russland und vielen ehemaligen Sowjetrepubliken ausgestrahlt wurde, ebenfalls mit großem Erfolg, wusste ich jedoch nicht –, bis ich vor kurzem auf das Buch von Natasha Lance Rogoff aufmerksam wurde, das in der deutschen Übersetzung von Frank Sievers 2023 bei Suhrkamp Nova erschienen ist. »Die völlig verrückte Geschichte, wie die Sesamstraße nach Russland kam« lautet der Untertitel und er verheißt zunächst Slapstick und lustige Unterhaltung, wie wir sie von Ernie & Bert, Grobi und dem Krümelmonster kennen und lieben.
Tatsächlich ist die Geschichte, wie die Sesamstraße nach Russland kam, zwar »hochgradig unterhaltsam« wie in The Guardian zu lesen war, und überdies äußerst spannend und aufschlussreich, aber nicht wirklich lustig. Als die amerikanische TV-Produzentin Natasha Lance Rogoff kurz nach dem Zusammenfall der Sowjetunion beauftragt wird, die Sesamstraße für das russische Fernsehen zu adaptieren, vor Ort Partner und Investoren zu finden, ein Redaktionsteam aufzubauen sowie landestypische Bühnenbilder und Figuren zu entwickeln (wie hierzulande Samson und Tiffy), herrscht im Land das allerschlimmste Chaos: Armut, Machtkämpfe, Korruption, Mord- und Totschlag.
Natasha Lance Rogoff und ihr Team bleiben davon nicht unberührt. Bei der Suche nach Geldgebern für die Uliza Sesam, so der russische Titel der Sesamstraße, kommt es unter fragwürdigen Umständen zu Treffen mit zwielichtigen Oligarchen. Ein Investor entgeht nur knapp einem Bombenattentat, mehrere Fernsehmanager werden kaltblütig ermordet und versprochene Gelder nicht gezahlt, und als nach langer Suche endlich ein Produktionsbüro bezogen werden kann, wird es kurz darauf und ohne Vorankündigung vom Militär beschlagnahmt.
Als wären dies nicht schon Probleme genug, offenbart sich eine riesige Kluft zwischen der amerikanisch-dominierten westlichen Kultur und der Kultur Russlands. Filme, in denen Männer im Haushalt helfen oder fröhliche Buchstabenlieder gesungen werden, scheinen unvereinbar mit der patriarchalischen Welt Russlands und der schwermütigen, mitunter morbiden russischen (Künstler-)Seele. Immer wieder boykottieren die von Lance Rogoff engagierten Autorinnen und Autoren ihre Arbeit, weigern sich, Skripte nach westlicher Pädagogik umzusetzen, und behaupten stur, russische Kinder würden sich in der amerikanischen Sesamstraßenwelt und ihren Figuren nicht wiederfinden. Man solle stattdessen lieber ihren weniger erfreulichen Alltag widerspiegeln und ihnen zeigen, wie sie sich darin am besten durchsetzen.
Mehrfach steht das ganze Projekt vor dem Aus. Doch es werden immer wieder Lösungen und Kompromisse gefunden, was aber auch erst so richtig gelingt, nachdem man das russische Autorenteam zu Workshops in die USA eingeladen hatte. Am Ende wird die Sesamstraße in Russland ein riesiger Erfolg. Sie läuft über viele Jahre und elf Zeitzonen hinweg auf den beiden größten russischen TV-Kanälen und erreicht so Millionen von Kindern und Familien … bis sie von Putins Gefolgsleuten 2010 abgesetzt wird. Aus heutiger Sicht ein Vorbote auf das, was 2014 und 2022 geschehen sollte.
»Muppets in Moskau« ist unter vielen Gesichtspunkten eine äußerst empfehlenswerte Lektüre. Sie bietet nicht nur einen interessanten Blick hinter die Kulissen der Sesamstraße, was an sich schon spannend genug wäre, sondern erinnert auch daran, das Differenzieren nicht zu verlernen, vor allem im persönlichen Miteinander. Denn trotz des brutalen Umfelds, in welchem Natasha Lance Rogoff ihre Aufgaben zu erledigen hatte, lässt sie keine Gelegenheit aus, immer wieder auf das Menschliche, Positive in der Zusammenarbeit mit ihren russischen Kolleginnen und Kollegen hinzuweisen. Man fragt sich nach dem Zuschlagen des Buches einmal mehr, welche Chancen auf eine bessere Welt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vertan wurden, und wünscht sich, das Modell Sesamstraße hätte Schule gemacht, sich auch in der russischen Politik durchgesetzt und dort dem Nationalismus und imperialen Größenwahn Nährboden entzogen.
Natasha Lance Rogoff: Muppets in Moskau | Deutsch von Frank Sievers
Suhrkamp Nova 2023 | 413 Seiten | Jetzt bestellen