Auf eine poetisch erzählte Weise kombiniert Mikael Niemi für »Wie man einen Bären kocht« verschiedene Genres: Whodunnit-Krimi, Historienroman, Liebesgeschichte, religiöses Traktat, Sittengemälde, wissenschaftliche Abhandlung, blutiger Thriller. Als Basis dafür verwendet der schwedische Autor (»Populärmusik aus Vittula«) die Geschichte des Propstes Lars Levi Læstadius, zwischen deren reale Eckpunkte er den Fall mehrerer misshandelter oder getöteter Frauen im Jahr 1852 in Kengis bei Pajala, Lappland, ersinnt. Ihm gelingt ein furioser Sog, indem er den von der Dorfbevölkerung ungeliebten Samenjungen Jussi aus der Ichperspektive die Begebenheiten wiedergeben lässt, bis sich die Ereignisse zur Katastrophe steigern. Nach diesem Punkt jedoch, im letzten Fünftel des Buches, geht Niemi die Puste aus. Bis dahin berauscht das Buch, danach enttäuscht es leider.

Man muss sich zunächst auf einiges einlassen, auf die Erzählstruktur, auf die Inhalte, auf die Personen, doch ist man allein von der Sprache schon so fasziniert, dass man dranbleibt, und sieht sich dann recht schnell ins Buch gesogen. Man befindet sich in Schweden, in Lappland, nur einen Steinwurf von der finnischen Grenze entfernt, mitten in der Einöde, im Land der Samen, die einerseits den schwedischen Lebensstil aufgezwungen bekamen und – wie viele Völker, die in die europäisierte Zivilisation gedrängt wurden – hernach dem Alkohol verfielen, und die andererseits von einem Christentum erhellt wurden, das maßgeblich von ebenjenem Propst Læstadius in die Wälder gestreut wurde. Selbst halb Schwede, halb Same, nimmt jener sich des Samenjungen Jussi an, den er bei sich – mit Gattin und Kindern – aufnimmt und ihn quasi nebenbei unterrichtet. Und jener Jussi nun berichtet fragmentarisch, aber mitreißend von den folgenden Ereignissen.

Die Lesenden erleben Jussis Erweckung mit ihm, wie aus der Kindesperspektive, staunend und mit bewegtem Herzen, während zeitgleich das Böse in die Welt dringt. Der Propst lehrt Jussi Lesen und Schreiben – damit transportiert Niemi Jussis analytische Freude am Lesen quasi auf der Metaebene, weil man selbst ja ebenfalls Freude an der Lektüre hat –, Botanik und alles rund um den Glauben, und das waren auch in der Realität Læstadius‘ Schwerpunkte. Wie nebenbei beobachtet Jussi, wie sich sein Meister mit anderen aus der Erweckungsszene über wiederum reale Erfolge und Fehlschläge austauscht und wie der Propst anhand der Natur und seiner botanischen Kenntnisse Spuren zu lesen weiß. Und Jussi verliebt sich in die Dorfschönheit Maria, wohl wissend, dass er als schüchterner Schamanenjunge keine Chance bei ihr haben würde. Diese schamanische Samenhistorie mit gewalttätiger Mutter und zurückgelassener Schwester erfährt man ebenso nebenbei wie die private Historie des Propstes, Niemi setzt die erzählerischen Pflöcke mit einigem Abstand, doch stets miteinander verbunden.

Dann wird eine junge Frau zunächst vermisst und später getötet im Moor gefunden. Der Landjäger und sein Gendarm gehen davon aus, dass es ein Bär war, der die Frau fraß, und ruft zu einer Hetzjagd auf. Der Botaniker hingegen liest die Spuren anders und findet Hinweise darauf, dass all dies von einem triebgesteuerten Menschen inszeniert wurde. Hier treten der unbeleckte Jussi und der deduktive Geistliche wie Dr. John Watson und Sherlock Holmes oder wie Hutchinson Hatch und Prof. Dr. Dr. Dr. Augustus van Dusen auf. Eine Bärin wird tatsächlich aufgebracht und gekocht – »Koka Björn«, so der Originaltitel, »Einen Bären kochen«, verrät dies. Doch nehmen die Übergriffe auf junge Frauen kein Ende, die Fehldeutungen der offiziellen Ermittler sowie die denen widersprechenden Erkenntnisse des Propstes ebenso wenig. Nach einem Tanzabend für das Gesinde bricht Gewalt aus, die sich allmählich steigert, mehr Mord, mehr Vergewaltigung, mehr Misshandlung, mehr Ungerechtigkeit, bis hin zu einer Katastrophe, die Niemi dazu zwingt, die Perspektive zu wechseln.

Und ab dem Zeitpunkt gleitet dem Autoren die Geschichte aus den Händen. Bis dahin verwebt er kunstvoll die Bestandteile, aus denen sein Roman besteht, teils nach Kapiteln getrennt, teils nebenbei in den Lauf der Handlung eingearbeitet, doch immer stimmig und überzeugend, wenn auch bisweilen etwas Belehrendes mitschwingt, aber das steckt man gern weg, schließlich übt die Geschichte einen immer reißenderen Sog aus. In der Katastrophe indes wechselt Niemi die Perspektive, von Jussi zum Propst zum auktorialen Erzähler und zurück zu Jussi, und belässt es nicht bei diesem einen Unterschied. Seine Erzählung verliert das Poetische und das Empathische, es scheint, als müsse Niemi noch schnell einige zusammenrecherchierte Fakten unterbringen und die Sache irgendwie pointiert zum Abschluss bringen. Doch verlieren die Figuren bis dahin ihre Zugänglichkeit, und weil ihnen auch die Energie abzugehen scheint, sich tatsächlich um Gerechtigkeit und Wahrheit zu mühen, distanziert man sich von ihnen.

Die Methode, reale historische Ereignisse anhand eines fiktiven unbedeutenden Nebencharakters nachzuerzählen, beherrscht Robert Harris (»Pompeji«) heute so gut, wie es Mika Waltari (»Sinuhe, der Ägypter«) einst vormachte. Auch Niemi webt den Jussi vortrefflich in Læstadius‘ Biographie ein; eine Begebenheit wie diese rund um die Morde könnten sich zugetragen haben, ein wissenschaftsoffener Mensch wie der Propst hätte sicherlich seine Freude an damals so topmodernen Errungenschaften wie Fingerabdrücken oder Daguerreotypie gehabt. Ein gelungener Ansatz also.

Doch lässt Niemi den Propst zwar im Namen der Gerechtigkeit Indizien und Beweise für die wahre Identität des Frauenmörders sammeln, und dann fällt ihm nichts mehr ein, wie er den Fall unter Einbeziehung seiner ermittelten historischen Fakten auflösen könnte; stattdessen Falschbeschuldigungen, Gerichtsverhandlungen, noch mehr Gewalt, Verrat, außereheliche Schwangerschaft, ein Deus ex machina, Andeutungen und nicht ausformulierte Handlungsstränge, als hätte ihn die Inspiration oder die Lust verlassen. Selbst die Identität des mordenden Menschen enthüllt er nicht nur nebenbei, sondern auch noch nicht als Folge von Erkenntnissen, sondern weil die Person sich in die Ecke gedrängt sieht und sich selbst offenbart, natürlich mit Gewalt. Und mit Gewalt auch nur lässt Niemi final die Gerechtigkeit walten, der man zuvor hunderte Seiten lang entgegenfieberte. Unbefriedigend.

Dabei ist »Wie man einen Bären kocht« auf 400 von 500 Seiten ein begnadet grandioser Roman, der zudem unterstreicht, wie sehr sich Niemi literarisch und inhaltlich von seinem Überraschungserfolg, seinem Debütroman »Populärmusik aus Vittula« aus dem Jahr 2000, weiterentwickelte. Und das, obwohl auch der in Pajala spielte, dem Heimatort des Autoren, und das Setting ebenfalls in einer Læstadianer-Gemeinde angesiedelt ist, nur 110 Jahre später. Vielleicht besinnt er sich noch und bringt »Wie man einen Bären kocht« mit einem besseren Schluss neu heraus. Dann wäre es ein schmackhaftes Gericht mit rundem Abgang.

Mikael Niemi: Wie man einen Bären kocht | Deutsch von Christel Hildebrandt
btb 2020 | 508 Seiten | Jetzt bestellen