40 Jahre lang entwickelte die Bevölkerung des Staates DDR eine eigene Kultur, und nach dem Fall der Mauer fand sie so gut wie keinen Nachhall in der gesamtdeutschen Erinnerung. Der westdeutsche Journalist Michael Kleff führte in den ersten drei Jahren nach der so genannten Wende Interviews mit Künstlern aus der DDR und veröffentlichte diese nun gebündelt als Buch. Die Aussagen der 29 Kulturschaffenden sind eine augenöffnende Ergänzung zu der herkömmlichen zwischen Verklärung und Verdammnis oszillierenden Betrachtungsweise dessen, was in dem Unrechtsstaat geschah. Hass und Liebe, Ernüchterung und Euphorie: Kleff trifft die Menschen auf einer sehr persönlichen Ebene und begegnet ihren bewegenden Emotionen und Ansichten. Ein bewegendes Buch.
Selbstredend ist es schwierig, wenn nicht sogar anmaßend, als im Westen Aufgewachsener diesem Themenfeld angemessen begegnen zu wollen; das schließt den Rezipienten weit mehr mit ein als den Fragesteller dieses Buches. Für Kleff war der westliche Blick seinerzeit womöglich sogar die bessere Grundlage, um den Ostkünstlern im für sie neuen Westen auf deren Problemebene begegnen zu können: Er kannte die Stolperfallen, die auf die DDR-Bürger erst noch zukommen sollten, und konnte sie konkreter damit konfrontieren. Und brachte so einfühlsam Erhellendes in Erfahrung.
In vielen Bereichen sind sich die Interviewten einig, in vielen anderen differieren sie erheblich; dieses Spannungsfeld verdeutlicht die Ungewissheit, die mit dem kapitalistischen System auf die Menschen aus der DDR einströmten. Einig sind sich die Liedermacher und Kabarettisten in dem Umstand, dass sie zu DDR-Zeiten eine staatlich geförderte Alternative zur Zeitung waren; ein Aspekt, der vielen im Westen eher unbekannt sein dürfte und der zudem diverse Zwickmühlen beinhaltet. Man weiß, dass die offiziellen Medien gesteuert waren, und man weiß, dass Meinungsfreiheit extrem eingeschränkt war, aber dass die Künstler davon profitierten, dass das Publikum sich gewissermaßen sicher sein konnte, bei einer ihrer Veranstaltungen Dinge zu hören zu bekommen, die nicht in der Zeitung stehen durften, überrascht sehr. Schließlich widerspricht dies dem Umstand der allgegenwärtigen Zensur.
Dazu berichten die Künstler, dass sie gewissermaßen vom Staate geförderte Sendboten waren, die zwar um jedes Wort feilschen mussten, aber wegen ihrer Rolle als Unterhalter eine rudimentäre Narrenfreiheit genossen, die ihren Genossen nicht zustand. Um diese nicht überzustrapazieren, war es angeraten, die Kritik poetisch zu verklausulieren; so verlagerte sich die Kunst ihrer Darbietung von der Musik auf das Wort (was nach der Wende verflachte, auch das ist Thema). Gleichsam gibt es Akteure unter den Befragten, die von den erschütternden Folgen eines überspannten Bogens zu berichten haben. Aufgrund dieser Botenrolle existierte nun eine Musiker- und Kabarettistenszene in der DDR, die es vergleichbar im Westen nicht gab, weil ihr dafür ganz einfach die Notwendigkeit fehlte.
Eine weitere Zwickmühle war für die Künstler, damit de facto eine Stütze des Systems zu sein, das sie eigentlich kritisierten; ein Vorwurf, dem viele von ihnen nicht nur nach der Wende zu begegnen hatten. Häufig gehört und mit mehr als nur Skepsis begegnet war das Argument, dass man als Stasi-Zuarbeiter den Rest seiner Band vor schlimmem Schaden bewahrte und ihm gleichzeitig mehr Freiheiten einräumte, weil man mit dem System verhandeln konnte. Parallel dazu schwingt außerdem ein Umstand mit, der Westdeutschen völlig fremd ist: Als Westler wollte man den Unrechtsstaat überwunden sehen, doch viele DDR-Bürger dachten so nicht, sondern wollten ihre Utopie von einem besseren System im Rahmen der DDR verwirklichen, das bereits existierende sozialistische Land mithin verbessern, optimieren, und das quasi dann doch wieder analog zu dem, was Westler dachten, mit einem Umsturz des Systems nämlich, lediglich in eine andere Richtung, nicht in die kapitalistische. Und es gab selbstredend ein Leben im Osten, ein lebenswertes und erinnerungswürdiges, auch trotz des menschenverachtenden Regimes und ohne es zu verklären; das galt und gilt es nach wie vor für Bürger auf beiden Seiten des Zaunes zu akzeptieren.
Umso ernüchternder war nun für viele Protagonisten der Umstand, sich mit der Wende und der Wiedervereinigung plötzlich in diesem kapitalistischen System wiederzufinden. Hier gehen die Gefühle und Ansichten der Befragten weit auseinander: Einige hatten zwischen 1990 und 1992 noch keinerlei Orientierung gefunden, litten unter Schreibblockaden, waren von der Schnelligkeit der Veränderungen so sehr überrannt, dass sie daraus kein neues Bühnenprogramm erarbeiten konnten, mit dem sie länger als zwei Wochen aktuell sein würden, und empfanden den Wegfall der staatlichen Förderung und damit der gesicherten Existenz als Bedrohung. Denn als DDR-Künstler galt man zwar als freischaffend, war im Grunde aber Angestellter des Staates; nun musste man sich plötzlich gegen Konkurrenten durchsetzen, die einst womöglich Kollegen waren.
Und gegen die erhebliche Konkurrenz aus dem Westen, die in der DDR zwar bekannt, aber höchst unzugänglich war. Das führte nun zu diversen Umständen: Das Publikum orientierte sich neu und es hatte auch nicht mehr so viel Geld für Kultur übrig, angesichts von Währungsreform und kapitalistischen Traumgütern. Zudem fielen für die DDR-Barden mit den alten Themen die Sendbotenrolle weg, was wiederum unterschiedliche Folgen hatte: Schreibblockade, Verflachung oder Vereinsamung. Damit brach ein endemisches Genre zusammen. Viele haderten mit dem Unterhaltungssystem des Westens, andere fühlten sich darin sofort pudelwohl, dritte fanden zunächst keine Position dazu.
Zudem kam es zu gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die nicht direkt mit der Kultur zu tun hatten: Gottlob sämtliche DDR-Künstler in diesem Buch verurteilten den Rechtsruck ihrer früheren Mitbürger, nur in einzelnen Ausnahmefällen äußerte sich mal jemand offensichtlich von einem gewissen Neid gesteuert über einzelne Besonderheiten, und da nimmt man als eher aufgeschlossener Leser erschrocken eine Gegenposition ein. Allem liegt ansonsten eine linksdemokratische Haltung zugrunde, was dem Lesenden hier einen leichten Zugang ermöglicht. Ebenso die Sprache der Befragten, die offenbar auch in der freien Rede zu einem ausgewählten Ausdruck in der Lage waren. Überdies erfreut, dass dieses Buch orthografie- und interpunktionsfehlerfrei ist – leider eine Seltenheit.
Kleff kommt seinen Befragten sehr nahe, man kann viele Gespräche als schonungslos betrachten. Einige fragte er mit Abstand zweimal und begleitete damit ihre persönliche Entwicklung innerhalb des für sie neuen Systems. Zudem ergänzt ein Anhang die Gespräche um die Biografien der Künstler. Die wenigsten davon kennt der Westbürger, darunter Bettina Wegener und Gerhard Gundermann (überdies sortiert Kleff die Gespräche nicht chronologisch, sondern alphabetisch nach den Nachnamen – ein interessanter Kniff); das ist ein beklagenswerter Aspekt, da sich DDR-Kultur nur rudimentär im gesamtdeutschen Erinnern niederschlägt, weil der Blick des Westens auf Ostkultur von Herablassung geprägt ist: Die kleine DDR kann nur kopieren, und das auch noch schlecht, dachte und denkt man, und ignoriert dabei, dass die Relevanz der Kultur, die in der DDR entstand, grundsätzlich gleichwertig zu betrachten sein sollte, ganz abgesehen davon, dass sich dort sehr wohl Eigenes entwickelte, eben jene Nachrichtenkultur im Oktoberklub – der Liedermacherbewegung der DDR – und dem Kabarett mit einer eigenen Poesie und einer eigenen Musikalität. Diese Biografien bilden zudem eine Spiegelachse: Sie beginnen mit dem, was vor den Gesprächen geschah, also zur Vorbereitung dessen führte, worüber man sprach, und führen bis in die Gegenwart, verraten mithin ungeschönt, wie sich die Vorstellungen der Interviewpartner davon entwickelten, als neue Bundesbürger leben zu müssen.
Die Künstler in diesem Buch haben noch so viel mehr zu berichten, vom Alltag mit Plattenaufnahmen und Fernsehauftritten, Brecht-Weill-Eisler, Aufpassern, Ausbürgerungen, Haftstrafen, Provinzkultur, Westkontakten, Anpassung, Rebellion, Systemkritik Ost und West, Netzwerken, Verbitterung, Hoffnung, neue Unfreiheit und Freiheit, der Bedeutung von Erfolg , der emotionalen Wucht, die es mit sich brachte, von jetzt auf eben einem wahlweise abgelehnten oder ersehnten System anzugehören. Die schiere Ostalgie findet hier nicht statt, einer Verklärung fällt niemand uneingeschränkt anheim. Man bekommt einen authentischen Einblick in das Empfinden gestandener Menschen, die die DDR mitgestalteten, aber anders, als es die DDR zumeist gewollt hätte, und damit eine aufschlussreiche Ergänzung zu den üblichen Zeitzeugnissen. Es wächst bei der Lektüre das Verständnis – für unzählige Aspekte. Das Buch ist ein Gewinn.
Michael Kleff, Hans-Eckhardt Wenzel (Hg.): Kein Land in Sicht
Gespräche mit Liedermachern und Kabarettisten der DDR | Deutsch
Ch. Links Verlag 2019 | 336 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen