Um das Jahr 1900 lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei Frauen und Männern in Deutschland bei 44 bzw. 40,6 Jahren (Quelle: statista). Das erscheint einem zunächst erschreckend wenig. Wer sich allerdings die damaligen Lebensverhältnisse der Menschen genauer anschaut, die hygienischen Zustände, die Armut, Krankheiten, Mangelernährung u.v.m., kommt schnell zu der Frage, wie sie überhaupt so alt werden konnten.

In Michael Crummeys Roman »Die Unschuldigen« präsentiert sich der Blick in die Geschichte noch ein paar Spuren härter und herzloser. Der kanadische Autor reist in seiner Erzählung noch weitere 100 Jahre zurück, nämlich in die Zeit um 1800, und sein Schauplatz ist nicht etwa ein dicht besiedeltes Europa, sondern die Küste Neufundlands.

In einer entlegenen Bucht führt hier die Fischersfamilie Best, Vater Sennet, Mutter Sarah und ihre Kinder Evered und Ada, ein einsames und äußerst entbehrungsreiches Leben. Nur zweimal im Jahr, im späten Frühjahr und im frühen Herbst, gibt es Kontakt zur Außenwelt, wenn in der Bucht die Hope vor Anker liegt, um die Familie beim Handel mit dem gefangenen und konservierten Fisch mit dem Allernötigsten zu versorgen. Die Winter sind extrem lang und extrem hart.

Diese Kulisse allein ist schon ziemlich niederschmetternd. Aber es kommt noch deprimierender. Der Roman beginnt damit, dass Mutter Sarah und Vater Sennet kurz hintereinander versterben. Das heißt, der elfjährige Evered und seine zwei Jahre jüngere Schwester Ada sind unvorbereitet, von einem Tag auf den anderen, ganz auf sich allein gestellt, in einer erbarmungslosen Wildnis fernab der Zivilisation. Sie haben nur sich, eine spärlich ausgerüstete Hütte und das überschaubare Wissen, das ihnen ihre Eltern in den wenigen gemeinsamen Jahren vermitteln konnten.

Auf knapp 350 Seiten beschreibt Michael Crummey den Überlebenskampf von Evered und Ada: in einer beeindruckend eindringlichen Sprache, schnörkellos, einfühlsam und tief berührend. Wobei sich die Geschichte keineswegs nur auf das Ringen mit den äußeren Naturgewalten konzentriert.

Es ist nicht weniger die innere (menschliche) Natur, die sowohl Evered als auch Ada zu schaffen macht und vor größte Herausforderungen stellt: Ihr Erwachsenwerden, ihre Unwissenheit, und dass sie außer sich und einer stillen Zuhörerin im Jenseits (ihre Schwester Martha, die bereits kurz nach ihrer Geburt verstorben war) niemanden haben, der ihre vielen Fragen beantwortet, sie aus ihrer tiefen Unsicherheit befreit oder auch nur eines ihrer Probleme löst.

Hinzu kommt schließlich noch eine grausame Entdeckung, die Evered eines extremen Winters in der zugefrorenen Bucht macht; eine Entdeckung, die an die unglückseligen Franklin-Expeditionen erinnert, wenngleich diese erst 50 Jahre später stattgefunden haben. Über allem Geschehen schwebt die Frage, ob auch die Unschuldigen, Evered und Ada, am Ende ihre Unschuld verlieren.

So gesehen ist das Buch weniger ein historischer Abenteuerroman, sondern vielmehr eine tiefgreifende Auseinandersetzung über Moral und Menschlichkeit. Kein Wohlfühlbuch, aber allerwärmstens zu empfehlen.



Michael Crummey: Die Unschuldigen | Deutsch von Ute Leibmann
Eichborn 2020 | 352 Seiten | Jetzt bestellen