Michael Chabon: Maps & LegendsMichael Chabon ist ein geborener Geschichtenerzähler. Seine Erzählungen bersten nur so vor skurrilen Charakteren, schrägen Anekdoten und nutzlosem Wissen, mit denen er seine Bücher verziert wie ein Zuckerbäcker seine Lebkuchenhäuser. Diesen Überfluss an Ideen und die Freude am Erzählen findet man auch in seiner Essaysammlung »Maps & Legends«, die den vieldeutigen Untertitel »Lesen und Schreiben entlang der Grenzgebiete« trägt.

Das hier angesprochene Grenzgebiet ist die verschwommene Trennlinie zwischen der »ernsthaften« Literatur zum Trivialen, die Chabons bevorzugtes Habitat darstellt. Kampfeslustig verteidigt er Detektivromane, Gruselgeschichten, Science Fiction und auch Comics – alles Dinge, die er seit seiner Jugend innig liebt.

»Verrate nie die Helden Deiner Kindheit«, diese Maxime hat Chabon stets beherzigt, ganz gleich, ob er in »Das letzte Rätsel« einen gealterten Sherlock Holmes in Würde abtreten lässt, oder wie in »Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier und Clay« das goldene Zeitalter der amerikanischen Comic Books heraufbeschwört. Auch in seinen Essays singt er ein Loblied auf die Tugenden der leichten Muse.

Ein Romancier sollte in erster Linie unterhalten, behauptet er. Auch wenn dies bedeutet, dass die etablierte Kritik solche Autoren als billige Entertainer abstempelt, die vor einem kreischenden, mit Schlüppern wirbelnden weiblichen Publikum »She’s a Lady« ins Mikrofon grölen. So zumindest sieht Chabon das. Natürlich ist so ein Bekenntnis zur Trivialliteratur leichter, wenn die eigene Prosa bereits mit dem Pulitzer-Preis geadelt wurde.

Der Inhalt von »Maps & Legends« spiegelt Chabons vielfältige Interessen wider. Er erzählt von Sherlock Holmes und seinen Schöpfer, betrachtet Cormac McCarthys Kultbuch »The Road«, schreibt über nordische Mythen, seine Liebe zu den Comics und seine Hinwendung zum Judentum. All diese höchst unterschiedlichen Themen werden mit der gleichen aufrichtigen Leidenschaft behandelt, denn es sind Themen, die ihn antreiben und geprägt haben.

Für Chabon ist die Grenze zwischen ernster und leichter Muse fließend, weil er mit dem Talent gesegnet ist, alles, was er anfasst, in hinreißende Prosa zu verwandeln. Er erlaubt uns sogar einen Blick hinter die Kulissen, indem er schildert, wie sein Roman »Wonder Boys« zustande kam. Wie sein Held Grady Tripp litt auch Chabon unter einem mehrjährigen »Schreibdurchfall« der kein Ende nehmen wollte. »Fountain City« lautete der Titel seiner mehr als tausendseitigen Roman-Ruine. Wie Tripp warf auch er Jahre harter Arbeit in den Müll, um sein Leben weiterleben zu können. Chabon diente das eigene Versagen zur Inspiration. Das Ergebnis: »Wonder Boys« wurde ein Bestseller.

Ein weiterer Meilenstein ist der Roman »Die Vereinigung jiddischer Polizisten«, der Krimi, Utopie und spannender Ausflug in das jüdische Brauchtum zugleich ist. Ein Buch das kein anderer hätte schreiben können. Auch hier gelang es ihm, die Beschäftigung mit der eigenen Identität spielerisch aufzuarbeiten. Über all dies und seine Angst, mit seinen Figuren in einen Topf geworfen zu werden, berichtet er in vier hellsichtigen Aufsätzen. Meiner Meinung nach der interessanteste Teil des Buches.

»Der große Gatsby« oder »Star Trek«? Chabon liebt beides. Warum also wählen müssen? Für ihn gibt es keine Grenzen, und seine Liebe zu den Themen, die er immer wieder aufgreift und variiert, ist grenzenlos. Vor allem, weil er mutig und unbeschwert mit Genres jongliert, wie ein Artist. Dieser Vergleich würde wohl auch Chabon gefallen, denn zweifellos sieht er sich als einen Erben des fahrenden Volkes.

Michael Chabon: Maps & Legends. Reading and Writing Along the Borderlands | Englisch
Fourth Estate 2010 | 250 Seiten | Jetzt bestellen