Mats Strandberg: Das Heim»Sein Mund ist trocken, das Bettzeug schweißgetränkt. Beim Anblick der geschlossenen Tür atmet er langsam auf. Er hat sich den Schrei bestimmt nur eingebildet. Ein böser Traum, an den er sich schon nicht mehr erinnern kann.«

»Der schwedische Stephen King« verkündet ein Sticker auf dem Buch, und ich muss ehrlich sagen, dass mich genau der zum Lesen dieses Buches animiert hat. Was für eine plumpe Werbemasche, dachte ich, und wollte einfach sehen, wie der Verlag darauf kommt, so etwas Infames zu behaupten. Denn natürlich kann es nur einen King geben, und sich mit ihm zu vergleichen, ist schon ein bisschen frech. Also, Buch besorgen, Zettel und Stift bereitlegen, damit ich mir die Stichworte für den Verriss notieren kann, und los geht’s.

Nach vielen Jahren kommt Joel zurück in die kleine Stadt, in der er aufgewachsen ist, um sich um seine Mutter zu kümmern, deren Demenzkrankheit nach einem Herzinfarkt immer schlimmer wird. Traurig organisiert er ihren Umzug in ein nahegelegenes Pflegeheim. Dort arbeitet Nina, mit der er früher mal dick befreundet war und erfolgreich Musik gemacht hatte, bis er ihre gemeinsame Musikerkarriere – einen Plattenvertrag schon in der Tasche – durch eine Drogenkarriere ersetzte, während Nina Mutter, Ehefrau und Altenpflegerin wurde und auf der Dementen-Wohngruppe viel zu viele Dienste schiebt …

So so, denke ich, nachdem ich fast hundert Seiten gelesen habe und notiere: Ziemlich gut geschrieben, wechselnde und leicht nachvollziehbare Perspektiven und Zeitebenen, empathische Beschreibung dementer Menschen. Aber ich denke auch, wo bleibt denn da der Horror? Sollte dieser Fettfleck an der Wand im Schlafzimmer von Joels Mutter der Einstig in die Geisterbahn sein? Oder sind es doch mehr die alten Frauen auf der Dementenstation, deren Macken, Marotten und Demenz-Symptome der Autor so treffend beschreibt, dass man den Verdacht hegt, er könne selber für einige Zeit auf solch einer Station gearbeitet haben? Flüssiger Stil, gute Charakterbeschreibungen, klasse Figurenentwicklung, notiere ich weiter auf meinen Zettel und füge hinzu: Aber wo ist der Thrill? Ich lese trotzdem interessiert weiter und bekomme die Antwort nur wenige Seiten später, denn mit Joels Mutter Monika stimmt etwas ganz und gar nicht:

»Sie schreit laut auf, als Monikas Augen sie direkt anstarren. Monika sitzt aufrecht im Bett. Das alte Gesicht ist zu einer Grimasse verzogen. Ihr Mund ist weit geöffnet. Die Halssehnen sind so gespannt wie Drahtseile. Ihre Hände umklammern das Bettgitter. Ein leises, metallisches Klirren erklingt, und Johanna erkennt, dass das ganze Bett bebt. Das kann doch nicht sein! Johanna geht näher an das Bett heran … Hallo, sagt sie. Hallo, hören Sie mich? Das Herz hämmert Johanna in der Brust. Sie streckt die Hand aus. Zieht sie rasch zurück, als Monika ein langgezogenes, tief aus der Brust kommendes Stöhnen von sich gibt. Ich muss jemanden zu Hilfe holen. Hoffentlich hat Adrian Dienst.«

Die alte Dame benimmt sich immer merkwürdiger, weiß plötzlich um die furchtbaren Geheimnisse, die nicht nur ihr Sohn mit sich herumschleppt. Schatten huschen umher, Lichter flackern und auch die Mitbewohnerinnen scheinen in ihrer Krankheit immer mehr einem Wahn aus Engeln und Geistern zu verfallen. Joel und seine Ex-Freundin finden nur ganz langsam heraus, um was es hier eigentlich geht. Und nachdem sie sich wieder zusammengerauft haben, nehmen sie den Kampf auf, in dem es um nichts anderes geht, als die Welt zu retten.

Den Schauplatz für einen Horrorroman auf eine Wohngruppe für demenzkranke Menschen zu legen, finde ich ziemlich gewagt, denn diese Krankheit ist schon Horror genug. Aber Mats Strandberg versteht es außerordentlich gut, vor platten Splatter-Szenen abzubiegen und das »jetzt, jetzt beißt sie zu / jetzt schlägt sie zu / jetzt sticht sie ihr das Messer in die …«, und die Erwartungshaltung der Leserschaft in diese Richtung gerade nicht zu erfüllen. Allerdings zieht er sich ein paar Mal auf einschlägig bekannte Horrorelemente und -motive zurück, wie etwa aus »Der Exorzist«, lässt sie die Protagonisten sogar erwähnen, denn sie kennen natürlich diese Filme und Bücher – auch die von Stephen King.

»Das Heim« ist ein toller Roman und bestätigt einmal mehr die Theorie: Schreibe einen ernsten Roman über ein ernstes Thema und du wirst nur wenige LeserInnen finden; schreibe einen Horror- oder Kriminalroman über ein ernstes Thema, dann werden es sehr viel mehr sein. Das Buch ist vielleicht nicht unbedingt für Menschen zu empfehlen, die gerade einen Angehörigen in ein Pflegeheim gebracht haben und der Slogan »Der schwedische Stephen King« etwas übertrieben, hat mich aber zu einem Autor gebracht, der sein Handwerk versteht und von dem ich noch den ein oder anderen Roman lesen werde.

Mats Strandberg: Das Heim | Deutsch von Nina Hoyer
Fischer Tor 2021 | 432 Seiten | Jetzt bestellen