Dass sich Comics hervorragend zur Reportage eignen, hat bereits Joe Sacco bewiesen, der für Bücher wie »Palästina« als zeichnender Journalist Krisengebiete besucht, um über seine Erfahrungen dort zu berichten. Ganz neu ist die Idee allerdings nicht: Bereits am Anfang des letzten Jahrhunderts wurde beispielsweise Star-Cartoonist Rube Goldberg von seiner Zeitung nach Mexiko geschickt, um dort den schon damals legendären Revoluzzer Pancho Villa aufzuspüren.
Was vor einem Jahrhundert noch ein netter Werbegag war, hat sich zumindest im heutigen Frankreich zum anerkannten Genre gemausert. Selbst der damalige Staatschef François Hollande spielte mit, als Zeichner Mathieu Sapin anklopfte, um für eine Comic-Reportage einen Blick hinter die Kulissen des Élysée-Palasts zu werfen. Etwa zur gleichen Zeit lernte der Künstler beim Dreh eines Reiseberichts Gérard Depardieu kennen, ohne jedoch zu ahnen, dass er mit dem umstrittenen Nationalheiligtum sein nächstes Projekt gefunden hatte.
Die nächsten fünf Jahre hing Sapin – wie es der Untertitel vorwegnimmt – am Rockzipfel von Depardieu. In der über 150 Seiten langen Comic-Reportage wird der alternde Filmstar als schwitzender Fresssack geschildert, der daheim am liebsten in der Unterhose herumläuft und fortwährend von einem nicht abreißen wollenden Menschenstrom heimgesucht wird. Depardieu ist dabei abwechselnd bauernschlau, ungerecht, nett, Chauvinist, Prolet, ein guter Beobachter und ein sich selbst überschätzender Grobian. Von seiner Umgebung fordert er von allem absolute Ehrlichkeit – zumindest so lange sie mit seiner Weltsicht übereinstimmt.
Sapin zeichnet sich selbst als mickrigen Asterix, der vom massiven Obelix-Darsteller fast aus dem Bild gedrängt wird. Während der launische Schauspieler einen kontinuierlichen Redeschwall absondert, steuert der schüchterne Zeichner bestenfalls ein paar Stichworte bei. Sapin begleitet sein Objekt nach Aserbaidschan, Bayern, Portugal und schließlich sogar nach Russland. Die Resultate reichen von banal bis tiefschürfend. Amüsant ist es, wenn der Filmstar ausgerechnet bei russischen Millionären das wahre Leben vermutet.
Das Cover des Buches zeigt Depardieu am Steuer eines Motorrads, mit einem ängstlich dreinschauenden Sapin im Beiwagen. Das bringt ihre Beziehung gut auf dem Punkt. Das Bild beruht auf einer Fotografie, die eindrucksvoll beweist, warum das Medium Comic ungeahnte Vorzüge bietet. Als Comicfigur wirkt Depardieu selbst in den peinlichsten Situationen zumindest amüsant. Und wer möchte sich den 140 Kilo schweren Koloss in einer Unterhose vorstellen? Zudem ist das Buch trotz einer enormen Informationsfülle und gelegentlicher Zeitsprünge zu keiner Zeit unübersichtlich. Ein weiterer Vorteil, den ein gezeichneter Bericht mit sich bringt.
Durch die charmanten Zeichnungen wirkt das Buch jedoch harmloser als es eigentlich ist. Vor allem ist es ein scharfsinniger Kommentar zum Personenkult und über die Zeit, in der wir leben. Wie jeder gute Journalist versucht Sapin möglichst nie seine Leser zu beeinflussen. Ob er das immer schafft, sei dahingestellt. Doch gerade durch die Einfachheit der Darstellung bietet Sapin viele Interpretationsmöglichkeiten. Wer in Depardieu nur einen dreisten Steuerflüchtling sieht, der die Nähe von Diktatoren sucht, wird sich bestätigt fühlen. Wer hinter dem Schauspieler eine komplexe Persönlichkeit voller Widersprüche vermutet, ebenfalls.
Mathieu Sapin ist mit seinem Buch ein unterhaltsamer Schmöker gelungen, den man in einem Rutsch durchlesen möchte. Die vielen kleinen Erklärungen am Seitenrand steigern das Lesevergnügen noch. Ein Buch, das vielleicht auch bei uns Nachahmer finden wird. Wer würde sich wohl in Deutschland für eine solche Reportage eignen? Til Schweiger? Dieter Bohlen? Lieber gar nicht daran denken!
Mathieu Sapin: Gérard. Fünf Jahre am Rockzipfel von Depardieu | Deutsch von Silv Bannenberg
Reprodukt Verlag 2018 | 160 Seiten | Jetzt bestellen