Martin Walser: Ein liebender MannEr stand im Ankleidezimmer vor dem raumhohen Spiegel. Die sechs Lampen links und rechts spendeten wieder das günstigste Licht. Er konnte den nackten Mann in diesem Spiegel nicht abstoßend oder nur im mindesten ekelerregend finden. Er konnte sich nicht wehren gegen eine Art Zärtlichkeitsempfindung, die er diesem Nackten gegenüber empfand. Und die Empfindung galt kein bisschen der Person, sondern allein der Nacktheit. Allerdings erhob sich dann ein Sturm, eine Nervosität, eine ihn fast schüttelnde, auf jeden Fall eine ihn vom Spiegel wegtreibende Ungeduld. Er sehnte Ulrike herbei. Nichts konnte grotesker sein, als sich neben diesen nackten, den jemand – er wusste nicht mehr, wer – als jugendlichen Greis bezeichnet hatte, als sich neben den die in ihren Gliedern herrlich dahinschwingende Ulrike zu wünschen.

Die Handlung des Walser-Romans »Ein liebender Mann« ist in zwei, drei Sätzen erzählt. Der 73-jährige Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe verliebt sich in die 19-jährige Ulrike von Levetzow. Eine Liebe, die leider nicht so erwidert wird, wie der große Dichterfürst es sich erhofft. Zwar fühlt sich Ulrike von Levetzow zu Goethe hingezogen, jedoch nicht, weil sie ihn begehrt, wie sie von ihm begehrt wird, sondern aus Bewunderung für seine Berühmtheit, seine Persönlichkeit und seinen Geist.

Es ist also nicht nur der Altersunterschied von 54 Jahren, aus dem diese Liebesgeschichte ihren Reiz bezieht, sondern auch die ungleiche Zuneigung, mit der sich die Liebenden im Laufe des Romans immer wieder begegnen und die Walser in humorvollen Dialogen und aufschlussreichen Gedankengängen Goethes beschreibt. Zum Beispiel, wenn eine saloppe Begrüßung Ulrikes den liebeskranken Dichter an allem und vor allem an sich selbst zweifeln lässt:

Sie sehen schön aus heute. Ja, ja, ja, sie hat nicht nur gesagt: Sie sehen schön aus, sondern: Sie sehen schön aus heute. Dass er ja nicht glauben konnte, er sehe überhaupt schön aus. Und schon gar nicht, er sei schön.

Stattgefunden hat die Liaison zwischen Goethe und Ulrike von Levetzow tatsächlich. Viel weiß man nicht darüber, nur: Der Dichter hat sie festgehalten in der so genannten »Marienbader Elegie«, eines der schönsten Liebesgedichte in der deutschen Literaturgeschichte. Die 23 Verse sind in Walsers Buch nachzulesen. Außerdem mehrere Briefe Goethes an Ulrike von Levetzow, die allerdings im Gegensatz zur »Marienbader Elegie« Walsers Phantasie entsprungen sind, also reine Fiktion.

Authenzität darf man von Walsers Erzählung daher nicht erwarten, wohl aber mittels einer beeindruckend einfühlsamen Sprache in die Zeit der Weimarer Klassik entführt zu werden – und in die mögliche Gedankenwelt des bedeutendsten deutschen Dichters. Unter diesem Gesichtspunkt ist »Ein liebender Mann« ganz große Literatur. Mag man Walser wegen eines anderen Buches »Altersgeilheit« vorwerfen oder seine politischen Ansichten ablehnen: Dass er ein herausragender Schriftsteller ist, muss man nicht diskutieren.

»Ein liebender Mann« ist dafür ein starker Beweis. Auch weil das Buch thematisch einiges zu bieten hat, weit mehr als »nur« eine romantische Geschichte über Goethe und die fragwürdige Liebe eines alten Mannes zu einer jungen Frau. Es ist ein weises Buch über das Verliebtsein – und ein weises Buch über Selbstliebe, über das Ringen und Zweifeln mit sich selbst im Angesicht einer unerfüllten Liebe.

Er ist sich jetzt so deutlich wie noch nie. Durch Ulrike. An ihr hört alles Ungefähre auf. Wie sie auf ihn reagiert, zeigt ihm, wie er ist, wer er ist, was er ist. Er wird ihr gegenüber freier werden. Unwillkürlicher. Als den, der er durch sie ist, wird sie ihn kennen. Der wird er sein. Durch seine Liebe zu ihr.

Martin Walser: Ein liebender Mann | Deutsch
Rowohlt 2008 | 288 Seiten | Jetzt bestellen