Martin Beyer: Und ich war daDer Vater hat nie zu uns gesagt: »Es ist gut!«; wir waren niemals fertig, und niemals war das, was wir taten, nach seinen Maßstäben genug. Einen Erfolg genießen, zu ruhen, all das kann ich bis heute nur sehr schlecht – der Vater konnte es überhaupt nicht. (…)

Diese Art zu Arbeiten stieß uns alle auf eine Spirale, von der wir nicht mehr abspringen konnten. Der Druck erhöhte sich immer mehr, bis es endlich Winter wurde und uns die Natur eine Verschnaufpause verordnete. Wenn aber nicht Winter war, reichte jeder Funke, um das mit Sprengstoff randvoll gefüllte Vaterfass explodieren zu lassen.

Und das tut es. Mehr als einmal lässt Martin Beyer den Vater seines Protagonisten zuschlagen. Gestürzt, die Treppen heruntergefallen, ausgerutscht, wird dem Arzt erzählt, der kurz nach dem Jungen schaut.

August Unterseher wächst zusammen mit seinem Bruder mutterlos (sie ist bei seiner Geburt gestorben) in einem Dorf in der Nähe von München auf. Der Vater – despotisch, gewalttätig und wortkarg – verweigert sich dennoch des aufkeimenden und rasend schnell heranwachsenden Faschismus. Allerdings sind seine Motive dafür ebenso wenig edel, denn als die beiden Söhne von der HJ gezogen werden, fehlen sie für die Arbeit auf dem Hof. Bruder Konrad erlangt in der Organisation Kraft und Selbstbewusstsein, die schließlich zur Auflehnung gegen den Vater führt; August macht mit, um der brutalen Tristesse zu entgehen. Aber er lernt in der HJ Paul kennen, einen Außenseiter mit unklarer Abstammung, der deshalb von Anfang an ins Visier des HJ-Führers gerät.

Ein von August in Pauls Rucksack eingeschleustes verbotenes Buch soll den Anlass liefern, den obskuren Jungen loszuwerden. Doch August weigert sich, platziert das Buch nicht in dessen Rucksack, nimmt die Strafe für diesen Ungehorsam auf sich und wird dafür mit Pauls Freundschaft belohnt. Der ihn zu sich nach Hause einlädt, in eine ganz andere Welt, bunt und von Bildung geprägt. Als Pauls Familie schließlich nach Italien flieht, schlägt August das Angebot mitzugehen leider aus, denn der Autor hat anderes mit ihm im Sinn.

Und das ist nur eine Episode der Geschichte des August Unterseher, die doch allein schon fast für einen Roman gereicht hätte. Aber das war nicht die Idee des Martin Beyer. Er will mehr, zu viel erzählt er auf so wenigen Seiten, dass sein Protagonist dabei fast auf der Strecke bleibt. Dessen Gefühle, dessen persönliche Entwicklung lassen sich kaum nachvollziehen. Unter anderem lernt er plötzlich eine junge Frau im Wald kennen, die im Widerstand ist und auch die versucht er zu schützen, dann wiederum ist er emotionslos an der massenhaften Erschießung von Juden beteiligt.

Stilistisch ist der Roman sehr gut erzählt. Zeilen wie »ein Zorn von bemerkenswerter Kraft und Reinheit« bleiben im Kopf. Die Dramaturgie der ersten Hälfte ist ausgefeilt, aber dann hetzt der Autor seine Hauptfiguren durch die Zeit und scheint nur noch Klischees abzuhaken, wie die homosexuellen Neigungen seines Vorgesetzten, die Gräueltaten der Wehrmacht, das Leben im Dritten Reich. Eine hastige Erzählung, die schließlich damit endet, dass man den Menschen vor sich hat, der als Henkershelfer an der Ermordung von Sophie Scholl beteiligt war.

Letztendlich erfährt man nicht, warum August Unterseher das Leben geführt hat, das er führte. Ist er doch der Überlebende, der seine Geschichte selbst erzählt. Die Frage, was für ein Mensch August ist, wird von Martin Beyer nicht beantwortet. August reflektiert nicht, er hinterfragt nicht, verweigert sich nicht, sein Gewissen, das ja durchaus vorhanden ist, meldet sich nicht, er wird vom Fluss seines Lebens einfach mitgespült.

Der Roman wirkt eher wie eine Zusammenfassung, ein erweiterter Entwurf zu dem, was ein großer Roman hätte werden können. Ein Roman über den namenlosen Mann der half, Sophie Scholl zu ermorden. Der nicht einmal eine Randnotiz in der Geschichte ist, aber »er war da«, wie so viele andere, und das ist es, was den Roman letztendlich doch lesenswert macht.

Martin Beyer: Und ich war da | Deutsch
Ullstein 2019 | 192 Seiten | Jetzt bestellen