Martin Becker: KleinstadtfarbenEr frisst, statt zu essen, er säuft, statt zu trinken, er quarzt, statt zu rauchen, und er ackert, statt zu arbeiten. Pinscher wiegt hundertdreißig Kilo bei einer Körpergröße von einssiebzig, wobei das um fünf Zentimeter geschummelt ist. Sein Aussehen gibt nur zum Teil seine Maßlosigkeit preis.

Ich muss gestehen, ich bin sofort skeptisch, wenn ein Autor mit Spielereien wie dem Verzicht auf Anführungszeichen bei wörtlicher Rede daherkommt. Und Dialoge in einem Blocktext hintereinander setzt. Gleiches gilt für fehlende Absätze und den exzessiven Gebrauch von Kommas anstelle von Punkten. Ich frage mich immer, was so etwas soll. Meist wirkt dies wie Effekthascherei, um einen Text interessanter zu machen, weil es mit Worten oder Handlung nicht gelingt. Bei »Kleinstadtfarben« ist das glücklicherweise nicht der Fall, denn der Text überzeugt in jeder Schreibweise.

Peter Pinscher ist ein begnadeter Ermittler von Todesursachen bei der Kriminalpolizei der Großstadt, doch leider gerät er immer wieder mit Vorgesetzten aneinander und so findet er sich plötzlich strafversetzt in seinem Heimatort in der Provinz wieder. Dort, wohin er nie zurückkehren wollte. Mündendorf ist hartes Arbeitermilieu und mit vielen schlechten Erinnerungen verbunden. Sein trinkender Vater ist früh an Krebs verstorben, seine Mutter hat sich nie von einem Schlaganfall erholt und lebt in einem Pflegeheim, für dessen Kosten Pinschers Elternhaus verkauft werden musste.

Für Pinscher ist die Rückkehr in die Heimat eine Niederlage, obwohl er sein Leben in der Stadt auch nicht gerade berauschend findet. Das Wiedersehen mit alten Freunden und Feinden in der Kindheit wird fortan zur ständigen Herausforderung.

Obwohl die Hauptfigur ein Polizist ist, handelt es sich nicht um einen Krimi. Es geht um Heimat, Heimkehr und Lebenslügen, vorgeführt durch eine unvergessliche Hauptfigur. Trotz der trostlosen Beschreibungen des Ortes blitzen doch auch immer wieder heimatliche Gefühle durch. Pinscher bleibt von seiner neuen alten Umgebung nicht unberührt und eine alte Schulfreundin weckt plötzlich noch ganz andere Gefühle in ihm.

»Kleinstadtfarben« ist ein tolles Buch, witzig und melancholisch zugleich. Dass britische Tragikomödien die Themen Kleinstadtmief, Arbeitermilieu, Alkoholmissbrauch und Desillusionierung nicht für sich gepachtet haben, beweist dieser Roman sehr eindrucksvoll. Wer im Anschluss noch Lust auf mehr verspürt, dem sei auch gleich noch »Schützenfest« von Dirk Bernemann ans Herz gelegt.

Martin Becker: Kleinstadtfarben | Deutsch
Luchterhand 2021 | 288 Seiten | Jetzt bestellen