Mariam T. Azimi: Tanz zwischen zwei WeltenIch sollte gehen, dachte Wana, und der Gedanke war kaum beendet, als ihr klar wurde, dass, egal wie lange sie wegbleiben würde, sie am Ende hierher zurückkehren musste. Sie hatte keinen Ort, an den sie gehörte, keinen Menschen, zu dem sie konnte.

Unsere kulturelle Identität wird wesentlich geprägt von unserer Herkunft, Heimat und Familie. Wenn zwei unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen, entstehen Konflikte, die mitunter auch existenzielle Fragen aufwerfen. Wie fühlt sich jemand, der seine Heimat gar nicht verlassen will und zur Flucht gezwungen wird? Warum lässt er alles zurück und geht in ein Land, dessen Sprache er nicht kennt? Was gibt er alles auf?

Ich gestehe, dass ich darüber bisher wenig nachgedacht habe. In meinem Kopf spukt der unsicher wirkende Paketauslieferer von Amazon mit seinen durchdringenden schwarzen Knopfaugen, der sich vor kurzem in unserem Haus verirrte und unseren Namen nicht aussprechen konnte. Vor diesem Hintergrund hat mich Mariam T. Azimis Roman »Tanz zwischen zwei Welten«, erschienen im vergangenen Jahr beim List Verlag, tief berührt.

Wana floh mit ihrer Familie als sechsjähriges Mädchen aus Kabul nach Deutschland. Inzwischen ist sie Anfang Vierzig und lebt mit ihrem Freund Alexander und dem gemeinsamen Sohn Leo in Berlin. Bis zu ihrem schweren Autounfall hatte sie keinen Kontakt mehr zu ihrer im Ruhrgebiet lebenden Familie. Sie kann ihren Alltag noch nicht wieder allein bewältigen und ist jetzt auf deren Hilfe angewiesen. Nun hat Wana viel Zeit, sich mit ihrer Herkunft und der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Den ersten tiefen Einschnitt erlebte sie, als sie mit ihren Eltern und der älteren Schwester Nila aus ihrem bisher glücklichen Leben in Kabul gerissen wird, um vor den Kommunisten nach Deutschland zu fliehen. Die neue, enge Unterkunft und die Schule verstören sie ebenso wie die Sprache, die sie nicht spricht. Ihre Mutter Modar klammert sich an das, was sie kennt und zieht sich in ihr afghanisches Netzwerk zurück. Nach Wanas Meinung träumt ihre Schwester viel zu früh von einem perfekten Ehemann. Ihr Vater lässt im Wohnzimmer die Vorhänge geschlossen und will seine Ruhe haben. Gehört Wana überhaupt zu dieser Familie? Ist Deutschland der richtige Ort für sie? Lange zweifelt sie daran.

Als Jugendliche findet sie ihre beste Freundin und beginnt endlich »dazuzugehören«. Ihre afghanische Kindheit verblasst, die Familie erscheint ihr fremd. Ein schwerwiegendes Ereignis mit ihrem ersten Freund treibt einen weiteren Keil zwischen Wana und ihrer Familie. Der Vater Boba darf auf keinen Fall davon erfahren. Von ihrer Mutter fühlt sich Wana noch mehr missverstanden als je zuvor. Sie scheint sich selbst nicht mehr zu kennen, zieht nach Berlin und beginnt ein neues Leben. Ihr Vater stirbt, und plötzlich wird sie in diesen Unfall verwickelt, der sie zurück in ihr Elternhaus bringt. Jahrelang fühlte sich Wana von ihrer Mutter falsch eingeschätzt. Ist sie ihr trotz allem nah? Was wird aus ihrer Beziehung zu Alexander?

Mariam T. Azimi beschreibt den Weg ihrer Protagonistin einfühlsam, authentisch und sehr plastisch, sodass die LeserIn ihre Gefühlsachterbahn gut nachvollziehen kann. Gespannt erlebt man Wanas Konflikte und Probleme mit und sucht nach einem eigenen Standpunkt. Man begreift, dass für die Geflüchteten im gelobten Land nicht alles gut wird und ihre Probleme per se nicht gelöst werden. Für eine bessere Zukunft ihrer Kinder zahlen die geflüchteten Eltern einen hohen Preis. Ein Grund mehr, ihnen die Antwort auf die Fragen »Wo gehöre ich hin?«, »Wo ist mein Zuhause?« zu erleichtern, indem wir auf sie zugehen und ihnen zuhören. Mit Sicherheit hat auch der Paketauslieferer von Amazon eine spannende Geschichte zu erzählen.

Mariam T. Azimi: Tanz zwischen zwei Welten | Deutsch
List 2021 | 256 Seiten | Jetzt bestellen